Interview mit Andi Rögner

Ein sehr interessantes Interview mit meinem Thaibox-Trainer Andi Rögner.

Die Podcaster labern bißchen viel, aber das Interview ist recht lang und interessant mit vielen Anekdoten, die ich selbst gar nicht kannte.

Die Zeiten werden rauher und ich bin der Meinung, dass sich ein Mann zumindest halbwegs selbst verteidigen muss und nicht gleich beim ersten Schlag niedergehen darf.

Daher zur Einführung zwei kleine Videos, mit denen ich selbst für mich trainiert habe.

Bei dem ersten Video wirken die Techniken etwas „sloppy“, aber vielleicht ist das der Stil dieser Schule. Man braucht auf jeden Fall sehr viel „Core“-Kraft und Körperbeherrschung, um die Techniken kontrolliert und kraftvoll ausführen zu können.

Hier, etwas fortgeschritten, sehr gutes Pratzentraining von Damien Trainor aus England.

Kampfsportgyms sind übrigens auch interessante anthropologische Forschungsstätten. Hier trainieren Kriminelle mit Polizisten, Schläger mit Normalos mit Bürojob. Wann hat man schon mal Gelegenheit, mit einem Hells Angel zu sparren und sich den Rockergossip in der Umkleide anzuhören? Umgehrt ist es auch so, dass Fußballhooligans und Türsteher auch gerne mal jemanden aus einem anderen Milieu kennenlernen.

Wenn ihr also in Frankfurt oder Umgebung wohnt, kommt doch vorbei.

แล้วพบกันใหม่

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Adoptiere ein Skelett!

Vor einigen Jahren war ich in Neapel.

Zuletzt war ich zur Abi-Abschlussfahrt in dieser Gegend. Aber damals, d.h. Mitte der 1990er Jahre, war es uns verboten worden, durch die Stadt stromern. Zu gefährlich. Von Rom ging es direkt nach Sorrent.

Erst eine ganze Weile später habe ich begriffen, dass Neapel, wie zahlreiche wichtige Städte am Rande des Mittelmeers eine griechische Gründung ist (wenn es nicht die Griechen waren, dann im Zweifel die Phönizier).

Neapel geht auf die griechische Bezeichnung Néa Polis („neue Stadt“) zurück. Es ist seltsam, aber als Schüler eines humanistischen Gymnasiums fühle ich mich auf irrationale fast schon paranormale Weise sofort wohl, wenn ich mich in einer griechischen Siedlung befinde. Denn überall, wo die alten Griechen hinkamen war es wahr, schön und gut, war Zivilisation.

Sobald sie an der Küste landeten, brachten sie Poseidon an Tieropfer dar, als Dank dafür, dass er ihnen eine günstige Überfahrt gewährt hatte und dann Zeus, weil, nun ja, weil er der Oberbabo auf dem Olymp ist. Sodann legten sie einen Platz für die Agora fest, denn eine Menschengruppe muss die Dinge ihrer Gesellschaft regeln und Entscheidungen treffen. Gleich darauf rammten sie Rebstöcke in den nächstgelegenen Hang, denn der zivilisierte Mensch braucht natürlich Wein. Sofort im Anschluss begann der Handel.

Die Griechen haben somit die Matrix für jede Menschenansammlung festgelegt, die man Zivilisation nennen kann: Stadt/Staat, Parlament, Handel. Und Wein.

Zur Wahrheit gehört allerdings, dass die Vorarbeit hierfür die Sumerer und Babylonier geleistet haben, die uns nicht nur mit der Erfindung des Rads und der Schrift beglückt, sondern auch das Konzept des Staats und der allgemeingültigen Gesetze erfunden haben. Selbstverständlich wurden im Zweistromland auch Wein und Bier konsumiert. Forscher haben herausgefunden, dass es zwei Ursprungsgebiete des Weinanbaus gibt: den Kaukasus und das Gebiet des fruchtbaren Halbmonds.

Das älteste bekannte literarische Werk der Menschheit, das altbabylonische Gilgamesch-Epos, gleichzeitig auch die erste Bromance, beschreibt, wie ein zotteliges Wesen namens Enkidu in der Steppe lebt, Gras frisst und mit den Gazellen umherzieht. Seine Menschwerdung wird folgendermaßen beschrieben: „Der wilde Enkidu trank Bier; er trank davon gar an die sieben Mal. Sein Geist ward gelöst, und er ließ sich mit lauter Stimme vernehmen. Wohlbehagen erfüllte seinen Körper und sein Antlitz erstrahlte. Er wusch den zottigen Leib sich mit Wasser, salbte sich den Leib mit Öl – und ward ein Mensch.

Zur vollständigen Geschichte gehört allerdings auch, dass er gleichzeitig auch sieben Tage lang mit der Kurtisane Schamkat gebumst hat.

Nach dem ältesten bekannten Buch der Menschheit wird der Mann also erst durch die Frau und das Bier zum Menschen. Ist das nicht schön?

Gilgamesch selbst tröstet sich nach dem Tod seines besten Freundes Enkidu mit Wein, den ihm die Wirtin Siduri kredenzt.

Es ist meiner bescheidenen Meinung nach immer wieder wichtig, sich klarzumachen, dass in dieser Region zweitausend Jahre vor unserer Zeitrechnung Bier und Wein konsumiert wurde, lange bevor die mohammedanische Religion die Grenzen der arabischen Halbinsel überschritt und in weiten Teilen der Erde nicht nur den Alkoholgenuss untersagt, sondern bis zur heutigen Zeit auch noch ganz andere geistige Verwüstungen anrichtete.

Heute leben in Süditalien, größtenteils in Kalabrien an der Stiefelspitze und am Hacken noch immer griechische Minderheiten, die einen Dialekt namens „Griko“ sprechen, deren Sprecherzahl aber immer weiter sinkt.

Doch bevor ich immer weiter abschweife: back to the point. Denn ich wollte ja eigentlich etwas ganz anderes erzählen.

Der italienische Familienzweig meiner Frau, die aus Mailand stammt, blickt indes voller Misstrauen auf alles herab, was südlich von Rom liegt. Wie in Deutschland gibt es auch in Italien eine, natürlich bigotte und scheinheilige, geographische und mentale Teilung: im Norden die fleißigen, „deutschen“ Italiener, die das Bruttosozialprodukt steigern, im Süden die faulen, nichtsnutzigen Halb-N-Wort, die außer Faulheit und organisierter Kriminalität nichts zustande bringen. Im Norden nennt man die Leute im Süden „terroni“, d.h. etwas schief übersetzt „Erdlinge“, was sich sowohl auf ihre Hautfarbe als auch auf ihre Erwerbstätigkeit bezieht. Das Einzige, was man diesen Wilden zutraut, ist allenfalls etwas primitive Landwirtschaft.

Nun ist es so, dass an Neapel als Kriminalitätshotspot schon etwas dran ist, auch wenn sich in den vergangenen Jahren einiges gebessert hat. Bisher bewirbt sich Neapel erfolglos als Kulturhauptstadt Europas. Leider hat es nicht geklappt, aber meiner Meinung nach würde es sich lohnen, denn die Stadt ist wirklich interessant.

Roberto Saviano hat in seiner wirklich beeindruckenden Recherche „Gomorrha“ die weitausgreifenden Tentakel der Mafia, die in Kampanien Camorra heißt, beschrieben, die alle Bereiche der Gesellschaft und der Politik unterwandert und korrumpiert hat.

Für den unbeteiligten Dritten verläuft das alles unsichtbar und den Augen des Touristen oder Unbeteiligten entzogen. Was vor wenigen Jahren noch ein Problem und Gegenstand von Warnungen in Reiseführern war, die vielen Taschendiebe und Handtaschenräuber, hat sich in Luft aufgelöst.

Es liegt nahe, dass es Abkommen zwischen Polizei und Camorra gegeben hat, in der Art, dass die Camorra die Kleinkriminellen an die Kandare nimmt und die Bullen bei den größeren, aber lautloseren Geschäften keinen allzu großen Ermittlungseifer zeigen.

Wie in vielen korrupten Systemen haben beide Seiten etwas davon: die Polizei kann gute Statistiken vorweisen und die Camorra kann in Ruhe ihren lukrativeren Geschäften nachgehen, ohne permanent den Atem der Bullen im Nacken zu spüren.

Dabei sind wahrscheinlich ein paar Nasenbeine und Kniescheiben auf der Strecke geblieben, bis die Botschaft angekommen war, aber jetzt ist es ruhig, wie ich persönlich bestätigen kann. Sogar in dem berüchtigten „Spanischen Viertel“, das bis vor kurzem noch als No-Go-Area galt.

Mir gefallen leicht schmutzige, dreckige Städte, so wie Marseille zum Beispiel, weil ich dort das Gefühl habe, dass dort noch Menschen aus Fleisch und Blut mit all ihren Fehlern und Schwächen leben und keine Cyborgs, Roboter oder lobotomisierte Arbeitssklaven. Mit solchen kärcher-gereinigten Städten wie Manhattan, London oder Singapur kann ich rein gar nichts anfangen.

Was mir an den südlichen Gefilden auch noch gefällt, und was ich als Atheist wie ein Anthropologe beobachte, ist diese Mischung aus tiefgläubigem Katholizismus und Aberglauben. Überall sieht man Mauernischen mit kleinen Marienstatuen. Natürlich ist auch Padre Pio allgegenwärtig. Aber fast jeder in Neapel trägt auch einen kleinen Anhänger mit einer roten Pfefferschote, dem „Cornicello“. Dieser Talisman soll einerseits den bösen Blick bannen, aber auch Kraft, Vitalität und Fruchtbarkeit bringen. Nicht ohne Grund hat der Glücksbringer eine kaum verhohlen phallische Erscheinung.

Das geheimnisvollste Epizentrum des Aberglaubens ist allerdings ein sehr mysteriöser und unscheinbarer Ort im Stadtteil Materdei.

In den einschlägigen Traveller-Blogs wird Materdei den digital Nomads und Expats als billig und noch nicht gentrifiziert angepriesen wird, was ein todsicheres Signal dafür ist, dass sich das Viertel in den nächsten 5 bis 10 Jahren komplett wandeln wird. Schön ist es auf jeden Fall dort.

In einer Höhle aus Tuffstein, deren Eingang sich gähnend öffnet, befindet sich ein Beinhaus, der Cimitero delle Fontanelle. Dort wurden – ähnlich wie bei den Katakomben in Paris – die Gebeine aus Friedhöfen transferiert, die bei der Vergrößerung der Stadt im Weg standen.

Die Neapolitaner haben den Aberglauben entwickelt, dass sie Glück erhalten oder ihr Schicksal zum Besseren wenden können, wenn sie sich eines Toten annehmen, sein Skelett pflegen, ihm Zigaretten, Kaugummis, Geldscheine oder sonstige kleine Geschenke bringen.

So findet man neben all diesen Präsenten allerlei kleine Zettel mit Wünschen. Schüler und Studenten bitten um Glück bei einer Prüfung, eine Frau bittet darum, schwanger zu werden. Mütter wünschen sich einen Mann für die Tochter oder eine Frau für den Sohn. Ein Mann erbittet, dass seine Angebetete seine Liebe erwidert. Das Kind soll von einer schweren Krankheit gesunden und so weiter.

So etwas habe ich auch schon im Süden Frankreichs und in Klöstern in Syrien und im Libanon gesehen. Ein wenig erinnert es an den Ort eines Voodoo-Priesters in New Orleans in dem Film „Angel Heart“.

Es ist zwar verboten, dort zu fotografieren, aber da ich ein böser Junge bin und außerdem im Süden Verbote niemals durchgesetzt werden, habe ich es doch getan.

Ganz am Ende der Höhle steht eine kopflose Statue, die mit Ketten und Tüchern behängt ist. Eine leichte Brise aus einer Öffnung hielt die Tücher in Bewegung. Es war wirklich gruselig.

Obwohl ich eigentlich ein Rationalist bin, habe ich eine Weile überlegt, ob ich diese Fotos hier posten soll oder ob mich vielleicht der Fluch des maltesischen Matrosen trifft.

Aber dann dachte ich mir, dass es sehr viel weniger anstößig ist, ein paar Fotos zu zeigen, die vielleicht zehn Menschen hier auf diesem Blog sehen, als einem Totenschädel eine Zigarette zwischen die Zähne zu stecken.

In diesem Sinne: enjoy!

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Youtube-Funde

Der Youtube-Algorithmus hat meine Persönlichkeit durchschaut und kennt mich mittlerweile besser als ich mich selbst. Ich habe es aufgegeben, mich dagegen aufzulehnen.

Vor nicht allzu langer Zeit musste ich abends ewig ratlos durch die Videos scrollen, um eine interessante Reportage zu finden. Heute finde ich eine Überfülle an interessanten Dokus, so dass ich heute Zeit brauche, um eine Auswahl zu treffen.

Neulich erst hat mir Algi ™ diesen Engländer vorgestellt, der schon seit ein paar Jahren als Vlogger unter dem Handle „Bald & Bankrupt“ unterwegs ist. Die Legende geht, dass er mit einem Buchladen pleite gegangen ist und dann Geld mit seinen Videos verdient hat. Es ist ehrlichgesagt ein großes Mysterium für mich, ob man tatsächlich mit monetarisierten Videos auf Youtube Geld verdienen kann, dass man damit seinen Lebensunterhalt bestreiten kann.

In seiner Jugend in den 1990ern hat er das perfide Albion verlassen und längere Zeit in Belarus und Indien verbracht, so dass er fließend Hindi und Russisch spricht, was es ihm ermöglicht mit den Menschen auf seinen entlegenen Streifzügen ins Gespräch zu kommen.

Er ist ein Engländer ganz nach meinem Geschmack: weltgewandt, gebildet, immer gut gelaunt und mit ausgeprägten „social skills“ ausgestattet, die es ihm ermöglichen, mit den unterschiedlichsten Menschen jenseits von Herkunft oder sozialer Klassen ins Gespräch zu kommen. Es sind keine bis ins Detail ausgearbeiteten Filme mit dokumentarischem Anspruch, sondern eher recht amateurhaft gefilmte und geschnittene Filme, deren Charme ganz in der Begegnung von Wesen der Gattung homo sapiens aus verschiedenen Erdteilen liegt, die auf amüsante Weise zusammentreffen.

Dieses Video ist ein wahres Kleinod: eine zufällige Begegnung in einer belarussischen Kleinstadt mit einem Unbekannten, der ihm die Stadt zeigen will und ihn auf den Friedhof führt, wo er ihm das Denkmal für den Zweiten Weltkrieg zeigen will, das er nicht findet. Man landet bei einem Freund, der Geigenlehrer ist, zum Wodkatrinken, gerät über den Zweiten Weltkrieg in Streit. Es wird geweint, getanzt, Geige und Gitarre gespielt. Schließlich verschwindet der Mann wutentbrannt aus der Wohnung, weil er den Engländer für einen amerikanischen Spion hält. Ein oberlustiges Miniaturschauspiel aus der postsowjetischen Welt oder, wie ein User in den Kommentaren schreibt: „Drinking with Slavics: happy, angry, dancing, repeat“. Man kann allerdings auch ruhig mit großem Respekt würdigen, dass in einem trostlosen Städtchen mit schlammigen Straßen und heruntergekommenen Plattenbauten ein zahnloser Alkoholiker den 3. Satz aus Vivaldis „Sommer“ auf einer verstimmten Geige spielen kann. Das sind die Paradoxe des Ostblocks.

Nachdem im Zuge der russischen Überfalls auf die Ukraine das paranoide russische Regime dem Briten ein Einreiseverbot auferlegt hat, hat er seine Aktivitäten auf Südamerika verlegt.

Dieses Video kommt einer Reportage schon näher. Darin macht sich der Vlogger auf den Weg der Migranten über den sogenannten Darién-Gap in die USA auf und dokumentiert, den gefährlichen Trip, auf dem die Migranten nicht nur mit Hunger, Durst und Verletzungen, sondern auch mit Gewalt, Raub und Entführungen durch Drogenkartelle konfrontiert sind. Der in Panama gelegene Darién-Gap ist das Einfallstor für Migranten aus Venezuela, die vor Maduro, Haitianern, die vor kannibalistischen Gangstern flüchten, aber auch von Vietnamesen, Indern und Afrikanern. Nicht nur Venezuela, auch das diktatorisch regierte Nicaragua rächt sich an den ihnen auferlegten Sanktionen, indem sie Migranten als Druckmittel und Waffe einsetzen, indem sie keine Visa verlangen und die Migranten direkt in die USA weiterleiten. Gerade erst im Dezember wurde ein indisches Flugzeug mehrere Tage in Frankreich festgehalten, das mit geschleusten Indern besetzt war.

Eine andere Neuentdeckung ist Legend. Ein wirklich gutes Interviewformat, bei dem ein Interviewgast lange und ausführlich zu Wort kommt. Der Gastgeber Guillaume Pley lädt die unterschiedlichsten Persönlichkeiten ein, von Pornodarstellerinnen, links- wie rechtsextremen Politikern, ehemaligen Geheimagenten und Mitgliedern von Spezialeinheiten. Frankreich hat ohnehin eine ganz andere Diskussionskultur, in der extreme Positionen und Meinungen nicht per se zur Disqualifikation führen. Im Gegenteil, für Talkmaster gilt: du kannst sagen was du willst, Hauptsache, du langweilst nicht. Auch hier hat sich in den letzten Jahren das Overton-Fenster langsam aber sicher verengt.

Zielsicher hat mir Algi das Interview mit dem Kriegsreporter Didier François vorgesetzt, dessen Persönlichkeit mich wirklich fasziniert hat. Obwohl mittlerweile über sechzig Jahre alt, hat er sich eine fabelhafte Jugendlichkeit und viel Humor bewahrt.

Es ist schier unglaublich, was er alles erlebt hat. Bei einer Reportage im Gazastreifen 2006 wurde ihm eine Kalaschnikowkugel ins Bein geschossen. Der Titanstab, mit dem sein Oberschenkelknochen ersetzt wurde, hinderte ihn jedoch nicht daran, seinen Beruf weiter auszuüben. Im Jahr 2013 wurde er in Syrien von Mitgliedern der Terrororganisation Islamischer Staat mehr als zehn Monate lang als Geisel festgehalten. Sein mit viel Humor vorgetragener Bericht über seine Gefangenschaft ist so spannend, dass selbst der Moderator ganz entgegen dem Konzept der Sendung zwei Teile von mehr als einer Stunde aus dem Interview macht.

Didier Francois ist wirklich ein sagenhaftes Vorbild an Resilienz. Der unschätzbare Wert solcher Interviews ist der, dass sie einem doch immer wieder vor Augen führen, wie absolut unbedeutend und belanglos die täglichen Ärgernisse im Gegensatz zu den Erlebnissen, die andere Menschen durchmachen müssen.

Die Untertitel sind leider bisher nur auf Französisch eingestellt, leider kann das Gespräch nicht wie bei anderen Videos automatisch englisch untertitelt werden, was wirklich schade ist. Ich hoffe, dass zumindest meine frankophilen Leser sich an diesen Videos erfreuen können.

Bon visionnage!

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Das Oktoberfest-Attentat: Rechtsextremer Anschlag oder erweiterter Suizid eines Incels?

Thematisch passt der Artikel ganz gut in die Nachrichtenlage, in der nach Jahrzehnten die in der Anonymität der Großstadt untergetauchte Daniela Klette, die Terror-Rentnerin mit dem Faible für Samba und Capoeira, in Kreuzberg aufgeflogen ist.

Unvermittelt dreht sich die Aktualität um Wiedergänger aus einer längst untergegangenen Realität, als Helmut Kohl noch Bundeskanzler war, man noch mit DM bezahlte und die TV-Größen Frank Elstner und Dieter-Thomas Heck hießen. Die damaligen Kämpfe und ihre Beweggründe scheinen unbegreiflich und weit entfernt. Ich finde das interessant und kurios zugleich.

Ich wollte mir vor meiner letzten Reise wieder ein wenig True Crime zu Gemüte führen und hatte auf spannende Lektüre für den Flug und vor allem die Warterei im Boarding-Bereich gehofft.

Nun. Ja. Das Ergebnis stellt mich nicht wirklich zufrieden.

Die Bombe

Zunächst die Fakten: am 26. September 1980 explodierte eine Bombe, die in einem Papierkorb am Eingang der Wirtsbudenstraße zum Oktoberfest deponiert worden war. 13 Menschen wurden getötet, einschließlich des mutmaßlichen Attentäters.

Aufgrund von Zeugenaussagen unmittelbar vor der Explosion und des Verletzungsbildes wurde der 23-jährige Rechtsextremist Gundolf Köhler als Täter identifiziert, der die Bombe in den Papierkorb ablegte, wo sie unmittelbar darauf explodierte. Die Bombe war aus einer britischen Mörsergranate und einem mit Sprengstoff gefüllten Feuerlöscher hergestellt worden.

Es ist nicht klar – zumindest nicht nach Lektüre des Buchs -, ob Köhler die Bombe zündete, ob sie beim Ablegen (planwidrig) zu früh explodierte oder ob sie möglicherweise ferngezündet wurde.

Mit seinem Tod wurden die Ermittlungen gegen ihn von Rechts wegen eingestellt.

Ob Köhler bei seiner Tat Mittäter hatte, ist bis heute nicht geklärt. Das ist das große Thema des Buchs.

Der Autor des Buchs, Ulrich Chaussy, ist felsenfest davon überzeugt, dass es mehrere bisher nicht identifizierte und damit nicht bestrafte Mittäter an diesem Attentat gab. Ihm wurden einige Jahre nach dem Anschlag aus anonymer Quelle Teile der Ermittlungsakte zugespielt, so dass er auf eigene Faust zu recherchieren begann.

Der Zeuge

Ausgangspunkt für seine Recherchen war ein Zeuge, der Gundolf Köhler in dem Zeitraum unmittelbar vor dem Bombenattentat längere Zeit beobachtet hatte.

Der Zeuge nannte sich Frank Lauterjung. Er war homosexuell und war an dem lauen Spätsommerabend aus seiner nahegelegenen Wohnung zur Wiesn gegangen, um zu „cruisen“, d.h. Sexualkontakte zu Männern zu suchen. Er hielt sich auf der sogenannten Brausebadinsel, offenbar eine ehemalige öffentliche Badeanstalt, auf einer Verkehrsinsel direkt vor dem Eingang zur Theresienwiese auf. Dort gewahrte er Gundolf Köhler, den er in seiner Aussage bei der Polizei als „niedlichen Wuschelkopf“ bezeichnete, der im Gespräch mit zwei Männern war, die Frank Lauterjung nur von hinten sah. Die Männer trugen Armeeparkas und hatten kurzgeschorene Köpfe (im Buch ist die Rede von „Stiftenköpfen“; ich musste den Ausdruck erstmal googeln. Gemeint ist vermutlich einfach eine Buzzcut-Frisur). Während Lauterjung versuchte, mit Köhler Blickkontakt aufzunehmen, hatte dieser – nach Aussage Lauterjungs – eine sehr hitzige Diskussion mit den beiden Parkaträgern.

Lauterjung überquerte den Bavariaring in Richtung Wirtsbudenstraße, während Köhler mit seinen Gesprächspartnern zurückblieb. Danach flanierte der Zeuge im Eingangsbereich der Wirtsbudenstraße. Kurz darauf sah er wieder Köhler, den Wuschelkopf, der eine weiße Plastiktüte trug, in der sich ein schwerer Gegenstand zu befinden schien, und diesen Gegenstand in den Papierkorb ablegte, woraufhin sich unmittelbar darauf eine Stichflamme und eine Explosion ereigneten. Lauterjung wurde von der Druckwelle fortgeschleudert und verlor das Bewusstsein.

Als er wieder zu sich kam, herrschte unbeschreibliches Chaos. Um den Explosionsort lagen Tote und Verletzte.

Eine Zeugin sagte aus, sie habe direkt nach der Explosion in der Nähe des Eingangs einen jungen Mann gesehen, der sinngemäß immer wieder geschrien habe: „Das habe ich nicht gewollt, ich wollte das nicht!“

Eine andere Zeugin gab viel später an, sie habe Köhler wenige Minuten vor der Explosion am Bavariaring im Gespräch mit mehreren Insassen eines Autos gesehen, das am Straßenrand hielt.

Diese unterschiedlichen und widersprüchlichen Aussagen sind wichtig für die Frage, ob es tatsächlich Mitwisser- oder Mittäter gegeben hat. Aus der Sicht von Ulrich Chaussy gibt es nicht den geringsten Zweifel daran, dass die beiden „Stiftenköpfe“ Mittäter Köhlers gewesen waren.

Das große Problem bei der Geschichte: sie konnten nie ermittelt werden.

Abgesehen von dem Zeugen Lauterjung, nennt Chaussy noch zwei andere Zeugen, die aber jeweils andere Wahrnehmungen schildern, einen schreienden Mann mit Gewissenbissen und Köhler mit Gespräch mit Automobilisten. Keiner der Zeugen ist der Lage, eine Aussage der anderen Zeugen zu bestätigen. Weder der schreiende Mann, noch die Insassen des Autos konnten ermittelt werden.

Für Chaussy sind es jedoch keine kritisch zu prüfenden Aussagen, sondern unterschiedliche Facetten eines Handlungsablaufs kurz vor und nach der Explosion, die er nicht hinterfragt, sondern als wahrhaftig und gegeben nimmt.

Hier kommen wir trotz der sehr interessanten Recherche zu dem ersten von zahlreichen Schwachpunkten des Buches. Der Journalist nimmt seine eigenen Überzeugungen für Beweise und verrennt sich dadurch in immer weitere Fehlschlüsse. Fehlschlüsse deswegen, weil Beweisführungen ohne objektive Anknüpfungspunkte logisch unzulässig und damit falsch sind. Es sind Spekulationen, die sich entweder zu Tatsachen konkretisieren oder aber zu Verschwörungstheorien verselbständigen können.

Ulrich Chaussy verletzt damit erstens die elementare journalistische Regel, wonach eine Tatsachenbehauptung durch (mindestens) zwei Quellen bestätigt sein muss.

Zweitens müssen Aussagen von Augen- oder Ohrenzeugen sehr kritisch hinterfragt werden, denn Zeugenwahrnehmungen sind aus vielfacher forensischer Erfahrung das schwächste Beweismittel. Es gibt psychologische Versuche, bei denen Versuchspersonen nur wenige Minuten nach einem bestimmten Ereignis nicht mehr in der Lage waren, die Farbe eines Autos, die Haarfarbe oder die Kleidung einer Person korrekt zu benennen. Das menschliche Gehirn spielt einem schon im Normalfall schöne Streiche und lässt uns Dinge erinnern, die sich überhaupt nicht oder völlig anders abgespielt haben.

Dies gilt umso mehr, als es sich bei den Zeugen vor und nach der Bombenexplosion um Beobachter eines traumatisierenden Geschehens und/oder um verletzte Opfer eines Attentats handelte, die sehr wahrscheinlich unmittelbar danach unter einem schweren Schock standen.

Wahrscheinlich ist es bei mir eine Berufsdeformation, aber ich misstraue automatisch Zeugenaussagen, weil ich schon aus meiner eigenen Anwaltspraxis weiß, wie unzuverlässig (oder unehrlich) Zeugen sein können.

Als weiterführende Lektüre kann ich nur das sehr hilfreiche Buch „Tatsachenfeststellung vor Gericht“ von Bender/Nack empfehlen, in dem vom Irrtum bis zur Lüge alle möglichen Fehler bei der Sachverhaltsaufklärung thematisiert werden und Tips für eine zielführende Zeugenbefragung gegeben werden. Es richtet sich zwar formal an Richter, aber ich arbeite als Anwalt recht viel mit dem Buch. Es ist zwar Fachliteratur, aber ich halte es auch für juristische Laien (eventuell auch für Journalisten) instruktiv, vor allem weil es nicht staubtrocken geschrieben ist, sondern eher amüsant und viele praktische Beispiele bietet.

Was uns zur Persönlichkeit des Hauptzeugen Frank Lauterjung führt. War er ein zuverlässiger Zeuge? Außer der Polizei kann hierzu niemand etwas sagen. Als Chaussy seine Adresse ausfindig gemacht hatte, stellte sich heraus, dass Lauterjung zwei Jahre nach dem Attentat verstorben war.

Abgesehen von seinen meiner Meinung nach fehlerhaften Schlussfolgerungen und Spekulationen fördert Chaussy doch so einige interessante biographische Aspekte zutage. Der Zeuge schien nämlich in seiner Jugend selbst ein wenig orientierungs- und haltlos zu sein.

In den1960er Jahre wurde er Parteimitglied bei der rechtsextremen NPD (ob dies bewusst oder unbewusst seine Aussage oder vielleicht auch seine Wahrnehmung beeinflusst haben könnte, wird in dem Buch nicht thematisiert). Nachdem er sich mit seinem politischen Mentor überworfen hatte, trat er nach einigen Jahren aus der NPD aus und machte eine politische 180-Grad-Wende und engagierte sich beim SDS in Berlin. Nach programmatischen Enttäuschungen verließ er auch diese Bewegung, schloss sich einer christlichen Sekte an und wurde Seelsorger.

Chaussy befrage mehrere Bekannte und Familienmitglieder von Lauterjung, die ihm berichteten, dass der Hauptzeuge kurz nach dem Attentat körperlich stark abgebaut habe. Er sei zwei Tage nach dem Selbstmord eines Neonazis im Jahr 1982 plötzlich verstorben, offiziell an einem Herzinfarkt.

Aus Sicht von Chaussy lässt das den Schluss zu, dass ihn die Traumatisierung durch das erlebte Attentat psychisch stark belastet hatte, ihn immer schwächer und kraftloser hat werden lassen und der Selbstmord des Neonazis seine Erinnerungen aufgewühlt haben und ihm bei seiner angegriffenen Gesundheit den Rest gegeben haben.

Kann so sein. Oder auch nicht. Lauterjung wurde nicht obduziert.

Ich habe da allerdings eine andere Theorie, die den körperlichen Verfall erklären könnte: zu Beginn der 1980er Jahre begann ein kleines Virus zu zirkulieren, das hauptsächlich schwule Männer befiel. Niemand konnte sich auf diese Krankheit einen Reim machen, deren Verlauf rasant verlief und die Patienten schnell dahinraffte. Als man das Virus identifiziert und kurz darauf seinen Übertragungsweg verstanden hatte, waren die Ärzte zwar etwas schlauer, waren aber machtlos gegen den Krankheitsverlauf. Die Krankheit, die man zunächst aufgrund der Symptome deskriptiv AIDS genannt hatte, führte zu einem schnellen körperlichen Verfall und Tod.

Lauterjung, der, wie man dem Bericht entnehmen kann, gern cruiste, fiel genau in dieses Zeitfenster, als sich das HI-Virus unerkannt rasant verbreitete und die Medizin noch keinerlei Therapie dagegen hatte.

In der damaligen Zeit waren sowohl Homosexualität als auch eine AIDS-Erkrankung hochgradig schambehaftet und tabuisiert, so dass Angehörige verklausulierte Erklärungen für den plötzlichen Tod abgaben: Krebs, „kurze schwere Krankheit“ oder Herzinfarkt, wie bei Lauterjung.

Ich verhehle nicht, dass das auch meinerseits ein spekulativer Erklärungsansatz ist, aber im Gegensatz zu Chaussy erhebe ich keinen Wahrheitsanspruch darauf.

Bei der Polizei hatte Lauterjung jedenfalls die Szenerie mit Gundolf Köhler und den beiden Parkaträgern unmittelbar vor der Explosion geschildert. Im Verlauf der Vernehmungen kam er – aus Sicht von Chaussy von den Ermittlern gedrängt oder gelenkt – zu der Aussage, es habe für ihn ausgesehen, als ob Köhler nach einem Schlafplatz suche und sich deshalb mit den Männern unterhalten habe. Die Begegnung sei also, aus Sicht der Polizei, rein zufällig und habe keine Relevanz für die Ermittlungen der Tathintergründe und eventueller Mittäter. Für Chaussy stellt das einen Versuch dar, die Ermittlungen auf einen lebensmüden Einzeltäter zu beschränken und einen etwaigen rechtsextremistischen Kontext zu ersticken. Dies vor dem Hintergrund, dass der seine Wiederwahl anstrebende bayerische Ministerpräsident Franz-Josef Strauß die Wehrsportgruppe Hoffmann, bei der Köhler an einer Wehrsportübung teilgenommen hatte, verharmlost hatte (was zutrifft).

Chaussy versucht, die Tat des Gundolf Köhler als von der Wehrsportgruppe Hoffmann, von der noch zu reden sein wird, initiiert darzustellen. Chaussy wirft der Polizei und der Bundesanwaltschaft vor, den (möglichen) rechtsextremen Kontext der Tat aus politischen Gründen ausgeblendet, wenn nicht gar vertuscht zu haben.

Die sehr große Schwäche in seiner Beweisführung ist allerdings die, dass niemand außer Lauterjung diese Parkaträger gesehen hat und sie niemals ermittelt werden konnten.

Aus diesem Grund war es der Polizei und der Bundesanwaltschaft nicht möglich, eine valide Aussage über Mittäter oder weitergehende Motive der Tat zu treffen. Nicht ermittelte Täter, bei denen noch nicht einmal klar ist, ob es sie wirklich gegeben hat, sind in der juristischen Realität (die sich, wohlgemerkt, von der tatsächlichen Realität unterscheiden kann) nicht existent.

Das alles haben Chaussy mehrere Bundesanwälte, die Normalsterbliche so gut wie nie zu Gesicht bekommen, persönlich mehrfach auseinandergesetzt. Natürlich hat ein Journalist eine andere Rolle als ein Staatsanwalt, der nur mit der Ermittlungs- und Prozessmaterie arbeiten kann, die ihm konkret vorliegt. Ein Journalist, darf hinterfragen und auch selbst recherchieren. Die Aufforderung des Bundesanwalts Kurt Rebmann, der noch die Terrorverfahren gegen die RAF geführt hat, an Chaussy: „Präsentieren Sie mir doch die Täter!“ ist aus Sicht des Journalisten der Gipfel des Zynismus und der Arroganz einer abgehobenen Justiz.

Aber Stellen wir einmal ein kleines Gedankenexperiment an: angenommen, es hat die beiden Parkaträger wirklich gegeben (was ich persönlich keineswegs ausschließen will). Gundolf Köhler war nach der Aussage von Lauterjung in ein hitziges Gespräch mit ihnen verwickelt.

Kann man daraus schließen, dass sie sich kannten? Vielleicht. Aber gesichert ist das nicht. Vielleicht sind sie über irgendeinen unbekannten Gegenstand in Streit geraten.

Doch selbst wenn es sich um Begleiter oder Mittäter handelte, weiß man nichts über ihr Gesprächsthema. Haben die beiden versucht, Gundolf Köhler zur Tat zu drängen oder nicht vielleicht sogar, ihn von der Tat abzubringen? Niemand weiß das.

Was könnte dies also an Ermittlungsansätzen erbringen? Es sind müßige Spekulationen. Eine solche Beweislage ist für einen Journalisten, der den ganz großen Scoops landen will, verständlicherweise sehr frustrierend, aber eben nicht zu ändern. Die Versuchung, einer Verschwörungstheorie zu erliegen, muss immer bekämpft werden.

Leider geht das bedenklich in diese Richtung, als Chaussy auf mögliche Gladio-Verbindungen und dabei auf das unsägliche Schrottbuch des Verschwörungstheoretikers Daniele Ganser verweist.

Hier hast du mich verloren, Uli!

Die Hand

Und dann ist da noch die Sache mit der Hand.

Unweit der Brausebadinsel wurde nach der Explosion ein „Handfragment“ gefunden. Aus dem Buch wird nicht klar, ob es sich dabei um eine ganze Hand oder mehrere Finger handelte, jedenfalls legt das Wort „Fragment“ nahe, dass es nur der Teil einer Hand war. Chaussy kommt im Verlauf des Buchs zu dem Schluss, dass es sogar zwei Handfragmente gegeben haben müsse.

Köhlers Leiche war die einzige, an der beide Unterarme und ein Unterschenkel fehlten. So lag es nahe, dass er der ehemalige Inhaber dieses Körperteils gewesen war.

Die Polizei hat auch ermittelt, ob Köhler die abgerissene Hand zugeordnet werden konnte. Da ein DNA-Abgleich zum damaligen Zeitpunkt noch nicht möglich war, da die entsprechende Technik noch nicht erfunden war, gab es nur die Möglichkeit einer serologischen Überprüfung, d.h. eines Blutgruppenabgleichs.

Chaussy schreibt in seinem Buch: Im Schlussvermerk der Soko Theresienwiese heißt es: „Etwa 25 m nordwestlich des Explosionszentrums, auf der Verkehrsinsel des Brausebads, wurden bei der Tatortbefundaufnahme die Reste einer menschlichen Hand gefunden. Eine serologische Zuordnung zur Leiche des Gundolf Köhler war nicht möglich. (Hervorhebung durch mich) Der Abdruck von diesen Fingern war aber identisch mit Fingerspuren, die in schriftlichen Unterlagen des Gundolf Köhler gesichert worden sind. Die zweite Hand von Gundolf Köhler konnte trotz intensiver Suche nicht gefunden werden. Sie dürfte durch den Explosionsdruck zerfetzt worden sein.“

Aus dem fettgedruckten Satz in dem Abschlussbericht zieht Chaussy die Schlussfolgerung, dass die abgerissene Hand, da alle anderen verletzten und verstorbenen Opfer der Explosion noch beide Hände hatten, einem bisher nicht identifizierten Mittäter Köhlers gehören müsse.

Chaussy liest und versteht den Satz so, dass ein serologischer Abgleich stattgefunden hat, die Blutgruppe der Hand aber nicht mit der von Köhler übereinstimmt. Die Übereinstimmung mit Fingerabdrücken auf Unterlagen in Köhlers Wohnung ließen sich dadurch erklären, dass der unbekannte Mittäter Schriftstücke in Köhlers Wohnung berührt habe. Möglich. Aber doch schon sehr an den Haaren herbeigezogen.

Ich bin immer wieder über die phänomenale Unfähigkeit zu logischem Denken bei vielen Journalisten erstaunt. Da das Buch an sich gut geschrieben ist, kann es nicht an fehlender Lesekompetenz liegen. Es muss bei Chaussy ein vorsätzliches Missverstehen vorliegen.

Aus dem Satz in dem Schlussvermerk, der in der Tat mehrere Interpretationen zulässt, ist nämlich keineswegs zwingend zu folgern, dass die Hand einer anderen, nicht-identifizierten Person gehört.

Dass eine serologische Zuordnung nicht möglich war, kann darauf zurückzuführen sein, dass zwar ein Abgleich versucht worden war, aber die Hand so zerstört war, dass kein für eine Probe ausreichendes analysierbares Material entnommen werden konnte.

Es kann in letzter Konsequenz auch bedeuten, dass ein Abgleich zwischen Hand und Leiche auch einfach gar nicht vorgenommen worden ist.

Chaussy kommt dann zu der aus meiner Sicht abwegigen Konklusion, die abgerissene Hand müsse einem Mittäter gehören, der seinen zerfetzten Armstumpf nicht im Krankenhaus habe behandeln lassen, da keine derartige Verletzung in den Tagen nach dem Attentat gemeldet worden war. Ernsthaft!?!

Hier werde ich als Leser langsam echt genervt. Hypothesenbildung, schön und gut, aber das hier geht in Richtung Verschwörungstheorie.

Heute gibt es allerdings die Möglichkeit des DNA-Abgleichs. Für einen neugierigen Journalisten liegt es daher nahe, eine solche anzuregen. Man müsste dazu genetisches Material von Köhler beschaffen, etwa von einer Zahn- oder Haarbürste, was nach über vierzig Jahren natürlich etwas schwierig ist, oder in letzter Konsequenz seine Leiche exhumieren, um aus Knochen oder Zähnen DNA zu exhumieren. Sehr aufwendig, aber möglich.

Dazu bräuchte man aber auch noch die abgerissene Hand. Und die ist verschwunden. Sie ist weder in der Münchner Rechtsmedizin, noch beim LKA, noch bei der Bundesanwaltschaft.

Für Chaussy ist das nur ein weiteres Glied in der bayerischen Vertuschungskette, um das rechtsextreme Komplott um die Wehrsportgruppe Hoffmann und anderen Neonazis nicht ans Licht der Öffentlichkeit kommen zu lassen.

Aber jetzt mal im Ernst, Uli: soll der Generalbundesanwalt die vergammelte Flosse jahrzehntelang in einer Tupperdose in seiner Schreibtischschublade aufbewahren und jeweils an seinen Nachfolger übergeben, weil irgendwann mal ein DNA-Abgleich möglich wäre?

Die wahrscheinlichste Erklärung ist, dass die Hand vermutlich irgendwann vernichtet wurde, weil das Verfahren eingestellt war und in der Asservatenkammer Platz für neue Beweismittel geschaffen werden musste. So einfach ist das. Ockhams Rasiermesser.

Natürlich kann alles auch ganz anders sein und man soll sich anderen Erklärungsansätzen nicht verschließen. Aber wer eine Tatsache behauptet, ist beweispflichtig, sonst ist es eine Spekulation.

Der Attentäter

Kommen wir nun zu dem mutmaßlichen Haupttäter Gundolf Köhler.

Zum Zeitpunkt der Tat wohnte er in Tübingen und stand kurz vor der Exmatrikulation, da er eine Prüfung in seinem Studienfach Geologie nicht bestanden hatte. Er hatte Probleme, Kontakt zum anderen Geschlecht aufzunehmen. Nach einer angestrebten Karriere als Berufssoldat war er nach seinem Wehrdienst, den er durch eine vorgetäuschte Taubheit vorzeitig beendete, von der Bundeswehr komplett desillusioniert. Er hatte wenige Freunde und galt als eigenbrötlerisch und kauzig.

Er war an Chemie interessiert und hatte in seiner Jugend Sprengstoffexperimente durchgeführt. Auch hing er eine Zeit lang rechtsextremen Ansichten an und hat an mindestens einer Wehrsportübung bei der berüchtigten WSG Hoffmann in Bayern teilgenommen.

Bezüglich seines familiären Hintergrunds hat Chaussy wertvolle Recherchearbeit geleistet. Die in Donaueschingen ansässige Familie Köhler kann nicht als rechtsextrem eingestuft werden. Sein Vater stammte aus Schlesien und floh nach dem Zweiten Weltkrieg nach Westdeutschland. Gundolfs Vater betätigte sich als gemäßigt Konservativer bei der örtlichen CDU. Die Brüder waren deutlich liberaler, sie neigten der SPD, der FDP und den neu gegründeten Grünen zu.

Gundolf Köhler, das Nesthäkchen der Familie mit konservativem Vater und links-liberalen Brüdern hat, um die Worte eines der Brüder zu paraphrasieren, das in der Familie noch offene Angebot im Parteienspektrum angenommen, was eine interessante psychologische Deutung darstellt.

Das interessante ist, dass die Dinge nicht so eindeutig sind, wie sie sonst dargestellt werden. Denn noch verblüffender ist, dass Gundolf in der Zeit vor dem Attentat den rechtsextremen Ideen abgeschworen und sich den Grünen zugewandt hatte.

Im Buch heißt es dazu:

Christian Köhler gewann ab Anfang 1980 den Eindruck, dass dieser Schock für seinen jüngsten Bruder heilsam war. Jetzt kamen wieder Gespräche in Gang, die zeitweise zwischen ihm und Gundolf gar nicht möglich gewesen seien. Gundolf habe seiner Auffassung nach in dieser Zeit begonnen, zu den konservativen Grünen [sic!] zu tendieren. „Er hat dann mit mir intensiv über die ökologischen Probleme in unserer Gegend diskutiert. Ich stellte fest, dass bei ihm sehr viel in Bewegung war und zwar weg von dieser ursprünglich rechtslastigen Argumentation. Dass das kein nahtloser Prozess war wie eigentlich alles in der Realität, dass das seine Bock- und Seitensprünge hatte, ist natürlich auf der anderen Seite auch klar“. Zumindest kurzzeitig habe Gundolf seine Fühler auch in Richtung der Grünen ausgestreckt, fügt Klaus Köhler hinzu. Der Ortsverband Donaueschingen der Grünen wurde im Frühjahr 1980 noch vor der baden-württembergischen Landtagswahl gegründet. In einigen der ersten Versammlungen am Ort sei Gundolf aufgetaucht, um sich über die neue Gruppierung zu informieren.“ (S. 185)

Ich finde, dass das die These des rechtsextremen Anschlags doch stark relativiert und ich frage mich, warum Chaussy trotz dieser sehr interessanten Elemente trotzdem an seiner These festhält.

Was die Recherchen in der Familie und im Umfeld Gundolf Köhlers ergaben, war das Folgende: er hat sich in einer persönlichen, beruflichen und seelischen Sackgasse gesehen. Er hatte keinen Erfolg bei Frauen, er war von der Bundeswehr enttäuscht, auf die er große Berufspläne gesetzt hatte, er war im Studium durchgefallen und stand unmittelbar vor der Exmatrikulation (der Brief mit dem Exmatrikulationsbescheid ging kurz nach seinem Tod postalisch bei ihm ein).

Es kann sein, dass aus der rein subjektiven Perspektive des Gundolf Köhler und dem Vergrößerungsglas seiner eigenen Psyche ihm seine Situation so ausweglos und düster erschienen ist, dass er sich entschlossen hat, sich das Leben zu nehmen. Mit einem großen Knall.

Hatte er noch rechtsextremistische Anwandlungen oder nicht? Durchaus denkbar. Auszuschließen ist es jedenfalls nicht, dass er trotz seiner Besuche bei den Grünen, teilweise seine rechtsextremen Ansichten beibehalten hat. Der Mensch ist widersprüchlich.

So einige Journalisten, die auf der Suche nach dem Scoop sind, verrennen sich in abstruse Theorien, ohne das Naheliegende einfach zu akzeptieren.

Chaussy stellt sich die Frage: wenn Gundolf Köhler tatsächlich vorhatte, Selbstmord zu begehen, warum hat er sich nicht mit einem Strick im Wald erhängt, sondern ist eigens mit einer Bombe nach München gefahren und hat Unschuldige umgebracht?

Gute Frage. Legitime Frage.

Aber man kann diese Frage genauso umdrehen: wenn Köhler tatsächlich ein rechtsextremes Fanal setzen wollte, warum ist er dann nach München gefahren und hat fröhliche Wiesnbesucher auf einem dem Alkohol gewidmeten Volksfest ermordet, das nicht gerade als Zusammenkunft von Linken, Juden oder muslimischen Besuchern bekannt war?

Was überwog? Sein faschistischer Menschenhass oder sein Lebensekel aufgrund seines selbstempfundenen Loser-Daseins? Vielleicht eine Mischung aus beidem.

Es kann einfach sein, dass er lebensmüde und depressiv war. Und daneben auch rechtsextrem. Eine ganz banale Erklärung.

So wie das Leben, das allzu oft einfach bestürzend banal ist.

Der Wehrsport-Chef

Chaussy versucht in seinem Buch den Gründer der Wehrsportgruppe Hoffmann mit zwei Attentaten in Verbindung zu bringen: dem Oktoberfest-Attentat und dem Doppelmord von Erlangen, bei dem der Rabbiner Shlomo Lewin und seine Lebensgefährtin Frida Poeschke erschossen worden waren.

Bei dem Doppelmord von Erlangen besteht tatsächlich eine Indizienkette zwischen der Tat und Hoffmann. Der mutmaßliche Täter Uwe Behrend, der später im Libanon Selbstmord verübte, war Mitglied der Wehrsportgruppe und hatte am Tatort die blaue Sonnenbrille von Hoffmanns Lebensgefährtin verloren. Hoffmann hatte die Tatwaffe verschwinden lassen und Behrend bei seiner Flucht unterstützt.

In einem nachfolgenden Prozess konnte ihm jedoch nicht nachgewiesen werden, dass er im Vorhinein von der Tat wusste oder in sonstiger Form an ihr beteiligt gewesen war.

Beim Oktoberfest-Attentat ist die einzige Verbindung zwischen Gundolf Köhler und Hoffmann die, dass Köhler einige Jahre zuvor an einer seiner Wehrsportübung teilgenommen hat. Auch von einer Beteiligung am Attentat in München wurde Hoffmann freigesprochen.

Karl-Heinz Hoffmann ist eine mysteriöse und undurchsichtige Person, über die es viele Gerüchte aber nur sehr wenige verlässliche Informationen gibt.

Der aus Nürnberg stammende Hoffmann, der in seiner Jugend in Thüringen aufwuchs, hatte eine Ausbildung zum Grafiker absolviert.

Hoffmann, bei dem man nicht so genau weiß, wovon er seinen Lebensunterhalt bestritt, konnte als sein Domizil das Schloss Ermreuth erwerben und sich einen zahmen Puma halten. Offiziell verkaufte er ausrangierte Bundeswehrfahrzeuge an die PLO im Libanon. Ich kenne mich in dem Markt nicht aus, aber ich glaube, man muss schon eine ganze Menge Unimogs verkaufen, um sich ein Schloss leisten zu können.

Offenbar hatte er nebenher eine Menge Zeit, um große Reden zu schwingen und seine Wehrsportübungen abzuhalten.

Auf Fotos trägt er entweder einen lächerlichen Kaiser Franz-Josef-Backenbart oder einen struppigen Salafistenbart.

Das Landgericht Nürnberg-Fürth charakterisierte ihn in einem Urteil von 1976 folgendermaßen: Für das Gericht war er „ein militanter Radikaler faschistoider Ausrichtung“, der Demokratie und Parlamentarismus ablehnte, Wahlen als „für die wahren Ziele des Volkes schädlich“ darstellte, das Führerprinzip vertrat und einen „wehrfähigen Nationalstaat innerhalb des deutschen Lebensraumes“ anstrebte.

War er der eingefleischte Rechtsextremist, als der er beschrieben wurde, oder doch vielleicht eher ein verkappter Schwuler mit Uniformfetisch, der gerne knackige Jünglinge um sich hatte, um sie zu scheuchen und herumzukommandieren, um seinen Herrenmenschen- und Überlegenheitskomplex an ihnen auszuleben?

Wie immer schließt im Leben das eine das andere nicht aus.

Fakt ist, dass er in den 1980er Jahren eine mehrjährige Freiheitsstrafe absaß, aber von der Beteiligung am Oktoberfest-Attentat und vom Doppelmord in Erlangen freigesprochen wurde.

Rechercheansätze

Nach mehreren Jahrzehnten ist es natürlich sehr schwierig, aber nicht unmöglich – wie der Fall Daniela Klette zeigt – Täter und Gehilfen aufzuspüren und Taten vielleicht aufzuklären.

Trotz meiner vorgebrachten Kritik muss man Ulrich Chaussy zugestehen, dass es so einige Ungereimtheiten in dem Fall gibt. Beispielsweise die Unauffindbarkeit der Laborbücher aus dem Jahr 1980 in der Rechtsmedizin. Damit fehlen Angaben über die Obduktion der Leiche von Köhler und der rechtsmedizinischen Untersuchung des Handfragments.

Aber andere Ermittlungsansätze gibt es dennoch.

Woher kam denn eigentlich der Sprengstoff? Dies wurde, zumindest im Buch, nicht geklärt. Weder in Köhlers Elternhaus in Donaueschingen noch in seinem Studentenzimmer in Tübingen hat man Sprengstoffspuren gefunden. Vielleicht hat Köhler die Räume sehr sorgfältig gesäubert, vielleicht haben die Ermittler auch schlampig gearbeitet.

War es überhaupt Köhler, der die Bombe baute? Und wenn nicht er, wer dann?

Woher stammte der Feuerlöscher? Und noch interessanter: woher kam die Mörsergranate, in die der Sprengstoff gefüllt worden war?

Es mag ja so einige Waffensammler und Militariahändler geben, die unter dem Ladentisch mal ein StG44 oder eine MP40 verkaufen. Aber eine Mörsergranate, ist schon etwas sehr Ungewöhnliches und auf diese dürften nur die wenigsten Zugriff haben.

Und was ist eigentlich mit dem guten Grundsatz „Follow the money“?

Wie kommt es, dass jemand wie Hoffmann, der eine Ausbildung zum Grafiker gemacht hat und in seiner Freizeit im Tarnanzug durch die Wälder hüpft, sich ein Schloss leisten kann?

Hat ihm da jemand finanziell unter die Arme gegriffen, damit er seine Aktivitäten ausüben kann? Vielleicht vermögende Alt- und Neonazis?

Oder vielleicht auch die Stasi, die sich gerne ihre eigenen Neonazis hielt, um die Politik und Gesellschaft der Bundesrepublik abzufucken.

Fragen könnte man ihn jedenfalls, denn der Betroffene lebt noch.

Es ist jedenfalls auffällig, dass so einige Neonazis die in den 1970er und 1980er Jahren tonangebend waren, aus der DDR stammten.

Beispielsweise Udo Albrecht, der aus der DDR floh und Karl-Heinz Hoffmann bei seinem Fahrzeughandel mit der PLO unterstützte, Attentate beging und bei einem Ortstermin an der innerdeutschen Grenze vor der Nase der Staatsanwälte auf das Zonengebiet entkam und heute als verschollen gilt. Er war lange Zeit DDR-Agent.

Oder Uwe Behrend, der Shlomo Lewin und Frida Poeschke mutmaßlich ermordete.

Zu nennen wäre auch der Badener Odfried Hepp, der in die DDR floh und dort als Stasi-IM amtete.

Möglicherweise birgt auch die Stasi-Unterlagenbehörde so einige interessante Überraschungen.

Fazit: eine interessante Recherche, der es aber an Rigorosität und methodischer Strenge mangelt. Leider ordnet Chaussy Rechercheelemente seiner These unter, dass es mehrere Mittäter aus dem Umfeld der Wehrsportgruppe Hoffmann müssen, was die Beweislage aber nicht hergibt.

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Throwback Thursday

Der Youtube-Algorithmus war der Auffassung, dass ich dieses Video sehen soll.

Es ist ein Mix aus der Mezzanine, der Bar im Nachtclub L’Alcazar. Gewissermaßen das Pendant zur Panoramabar in Berlin. Nur ein wenig schicker, weil: Paris.

Es ist echt gespenstisch. Vielleicht hat mein Telefon Musik, die ich beim Arbeiten höre, belauscht und mir über Youtube das Video kredenzt, so wie man personalisierte Werbung auf Webseiten erhält, wenn man sich über bestimmte Themen unterhält.

Es kann sehr gut sein, dass ich diesen Ambient-Downtempo-Minimal-Mix tatsächlich damals in Paris gehört habe, abends beim Lernen. 19. Juni 2000. Da standen die Semesterabschlussklausuren an. Da war nichts mehr mit Party. Es war Hardcore-Lernphase und alle saßen an ihren Schreibtischen und würgen sich den Stoff rein.

Wenn die Bibliotheken schlossen, ging ich nach Hause und lernte weiter. Die Abende waren warm und noch sehr lange hell. Paris liegt nochmal mehr als 1000 km westlicher als Berlin.

Ich erinnere mich an einen Abend. Schräg gegenüber, über der Wäscherei in der Rue Hyppolite Maindron, feierte ein Mädel aus einer Familie tunesischer Juden ihren Geburtstag. Vielleicht ihren zwanzigsten. Ich hörte orientalische Klänge, Housemusik, Lachen. Ich war kaum älter als sie. Wie gerne wäre ich einfach hinübergegangen. Ich prokrastinierte. Ich wollte überall sein, nur nicht an meinem Schreibtisch und meine bis zum platzen gefüllte Birne noch weiter mit Schemata zum Gesellschaft- oder Arbeitsrecht füllen.

Wie Alices Sturz in den Kaninchenbau zieht mich dieses Video in die Zeit zurück. Die Musik lässt die Stimmung wieder aufleben, wie es sonst nur ein plötzlicher erhaschter Geruch kann. Unglaublich.

Jetzt sitze ich hier in meinem Büro und übe den ungeliebten Beruf aus und denke an die Zeit zurück.

Fred habe ich mit Yvan letztes Jahr in Paris auf dem 45. Geburtstag gesehen und sogar Anfang des Jahres in Helsinki, wo er eine schöne Wohnung im Stadtteil Pasila hat. Die eisige Kälte von – 20 Grad und die Massen an Schnee sind schon Erfahrungen der besonderen Art, die man in Deutschland definitiv nicht mehr macht.

Unsere Kinder spielten gemeinsam Mario Cart auf der Konsole. Daran kann man ermessen, wieviel Zeit schon vergangen ist. Bald werden die Kinder ausziehen.

Die Zeit rast. Man blinzelt einmal und schon ist April, man blinzelt nochmal und es ist August, wenn man ein drittes Mal blinzelt, sitzt man schon in der Weihnachtsfeier und hat zwei Glühwein intus und die Strafverteidiger im Haus erzählen ihre besten Geschichten aus der Blut-und-Sperma-Abteilung und lästern über Richter, Staatsanwälte und Kollegen.

Das Jahr in Paris liegt schon Äonen zurück. Die Welt hat sich schon lange weitergedreht. Die Musik zieht mich für eine kurze Weile dorthin zurück.

Ich versinke in cosy Erinnerungen. Sehe mich im Lesesaal im Centre Pompidou hinter Bücherregalreihen vergraben, in der Bibliothèque Sainte-Geneviève. Mit einem Joint am Ufer der Seine.

Der Mix ist vorbei. Ich ziehe die Tür zu. Die Geister kommen.

(Memo an mich selbst: Google home microphone deaktivieren)

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Kurzfilm, die Zweite

Banlieue sucht den Superstar.

Normalerweise bin ich kein Freund der chinesischen Propaganda-App Tiktok, aber bisweilen findet man dort urkomische kleine Sketche und Musikstücke. Hier etwa, wie es aussehen würde, wenn Gangsterrapper das Intro von Kindersendungen vertonen würden.

@ad4reaal_

Épisode 4 | Si on avait fait le générique de Petit Ours Brun 🐻 #generique #fyp #fypシ #generiquedessinanime #pourtoi #foryou #petitoursbrun

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Kurzfilm, die Erste

Osteuropa, insbesondere Tschechien war bis in die 90er Jahre das europäische Zentrum für Zeichentrick- und Animationsfilme.

Warum das so war, weiß ich nicht. Vielleicht gab es im Kommunismus nicht genug Geld für richtige Spielfilme? Oder es gab zu viel Überwachung durch die Staatssicherheit? Oder die Zeichentrickfilme waren eine Form von Eskapismus?

Erklärungsansätze sind willkommen.

Hier ist ein Film, den ich vor sehr langer Zeit, als ich noch in Berlin lebte, bei einem Filmfestival im Kino Babylon gesehen habe und der mich dermaßen fasziniert hat, dass ich immer wieder an ihn zurückdenken muss.

Es ist ein Stop-Motion-Film, nur dass der Künstler hierfür Sand nutzt, er nennt diese Technik „Sand Animation“.

Dieser sehr kurze Film des Ungarn Ferenc Cakó hat mich nicht nur durch seine Kunstfertigkeit in seinen Bann gezogen, sondern auch durch eine faszinierend-hypnotische Mixtur aus der dräuenden Musik, den düsteren Szenerien und den darin auftauchenden Symbolen: immer wieder dunkle Vögel, eine Frau die mit flatterndem Mantel im Wind an einer Klippe steht.

Ich habe mir immer vorgestellt, dass dieser Film eine Allegorie auf die Vergänglichkeit (und vielleicht auch Vergeblichkeit) des Lebens ist.

Sehen Sie selbst:

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Im Auge der Drohne

Der Zug hielt in Bazancourt, einem Städtchen der Champagne. Wir stiegen aus. Mit ungläubiger Ehrfurcht lauschten wir den langsamen Takten des Walzwerks der Front, einer Melodie, die uns in langen Jahren Gewohnheit werden sollte. Ganz weit zerfloß der weiße Ball eines Schrapnells im grauen Dezemberhimmel. Der Atem des Kampfes wehte herüber und ließ uns seltsam erschauern. Ahnten wir, daß fast alle verschlungen werden sollten an Tagen, an denen das dunkle Murren dahinten aufbrandete zu unaufhörlich rollendem Donner – der eine früher, der andere später?

Ernst Jünger, In Stahlgewittern

In wenigen Wochen jährt sich der Beginn des Russisch-Ukrainische Krieges zum zweiten Mal.

Für die Menschen im sicheren Westen ist der Ukrainekrieg etwas Abstraktes: Soldaten sterben, Material wird zerstört. Es sind Zahlen, Daten, Fakten.

Wie wichtig ist dagegen das Trennungsdrama von Oliver und Amira Pocher, das seit Wochen die von der BILD-Zeitung gesteuerte deutsche Ochlokratie in Atem hält, nachdem das Trennungsdrama von Peter Klein und Iris Katzenberger ein wenig an Interesse eingebüßt hat. Abgelöst wird es sicher durch die nächste, tagelange Artikelserie über irgendeinen völlig verdummten Fußballspieler, der seinen neuen Lamborghini Huracán geschrottet hat.

Was von der deutschen Bevölkerung mit allgemeinem Desinteresse zur Kenntnis genommen wird, ist jedenfalls für mich ein Vorbote von drohendem Unheil. Natürlich ist es ein Charakteristikum der menschlichen Natur, sich möglichst schnell an neue Situationen anzupassen und das, was noch kurz zuvor unnormal war, als völlig gewöhnlich zu akzeptieren. Und dennoch. Ein konventionell geführter Krieg mit zigtausenden Toten auf europäischem Gebiet ist nicht normal.

Nie hätte ich es ernst genommen, wenn man mir vor 25 Jahren vorausgesagt hätte, dass in Europa ein „full-scale“-Krieg geführt wird und dass Russland (?!?) tatsächlich ein europäisches (im geographischen Sinn) Land angegriffen hat.

Als Kinder der 90er waren wir naiverweise davon überzeugt, die Zeit der Kriege und Konflikt sei überwunden.

Doch das war ein Trugschluss. Diese Zeiten sind vorbei. Lange vorbei.

Wie im August 1914 haben sich die Organisatoren der „militärischen Spezialoperation“ völlig verschätzt. Man kennt das berühmte alte Foto mit den Landsern des kaiserlichen Deutschen Heers, die lachend aus dem mit den Kreidesprüchen wie „Auf in den Kampf mir juckt die Säbelspitze“, „Ausflug nach Paris“, „Auf Wiedersehen auf dem Boulevard“ beschrifteten Eisenbahnwaggon winken.

Was eine fünftägige Landpartie mit anschließender Blumenparade auf dem Chreschtschatyk werden sollte, hat sich zu einem barbarischen Gemetzel ohne Aussicht auf ein Ende des Schlachtens ausgewachsen.

Ein anschauliches Beispiel für das, was Helmut von Moltke mit seinem berühmten Zitat gemeint hat: „Kein Operationsplan reicht mit einiger Sicherheit über das erste Zusammentreffen mit der feindlichen Hauptmacht hinaus.“

Es scheint, als ob sich die Charakteristika der beiden Weltkriege kombiniert hätten: der Stellungs- und Grabenkrieg und die granattrichterübersäten Landschaften aus dem Ersten und die Panzerschlachten und Raketenangriffe aus dem Zweiten.

Ein neues Element ist heute hinzugekommen, das die hergebrachte Kriegsführung völlig auf den Kopf stellt: Drohnen.

Einen Vorgeschmack darauf haben die Kämpfe in Bergkarabach geboten, als klar wurde, in welcher Rekordzeit die aserbaidschanischen Streitkräfte mit ihren aus der Türkei gelieferten Drohnen die armenischen Verbände ausradiert haben, ohne dass diese auch nur das Geringste entgegensetzen konnten.

Bei Drohnen denkt man gemeinhin an die fliegenden Kawentsmänner aus den USA, die martialische Namen wie Predator oder Reaper tragen. Man stellt sich vor, wie sie von einem übergewichtigen Soldaten irgendwo auf einer Luftwaffenbasis in Iowa gesteuert werden, in der einen Hand einen angebissenen Burger in der anderen den Joystick, während er auf Bildschirmen die Fahrt eines Toyota-Pickup mit irgendeinem Al-Qaida-Emir irgendwo im syrisch-irakischen Niemandsland verfolgt, und im geeigneten Augenblick eine Hellfire-Rakete abfeuert, die den bärtigen Kackvogel zu seinen 72 Jungfrauen befördert.

Aber um solche millionenteuren technischen Kunstwerke im Gegenwert einer Luxusyacht geht es hier nicht, sondern um kleine, handelsübliche Quadrocopter von DJI oder Parrot, die man für ein paar hundert Euro bei Amazon oder Conrad bestellen kann.

Eine kleine, neuartige Waffe, die, so unscheinbar sie auch sein mag, eine totale Disruption auf dem Schlachtfeld herbeigeführt hat.

Es gibt nun nicht mehr nur die „blinden“ Artillerieschläge, bei denen man die Flugbahnen der Granaten irgendwie vorausberechnen oder -ahnen und sich in Deckung werfen kann.

Jetzt wird die Sprengladung direkt über den Köpfen der Kampfbeteiligten abgeworfen. Es gibt kein Entkommen mehr.

Wenn man zum Ukrainekrieg recherchiert, dann kommt man nicht umhin, gewisse Twitter- und Telegram-Kanäle oder Gore-Seiten zu abonnieren. Sie tragen Namen wie, „Death District“, „Fertilizer Finder“ oder „Gruz-200“ („Ladung 200“), seit Sowjetzeiten ein Militärcode für einen Leichentransport und noch andere ausgefallene Namen, auf denen es jeden Tag dutzende Videos mit „Combat footage“ gibt.

Das so beruhigend und sedierende Gefühl des „Abstrakten“ der Info-Häppchen aus dem heute-journal, das man so einfach von sich wegschieben kann, weicht dann sehr schnell Konkreterem.

Die Ukrainer haben ihre waffenmäßige Unterlegenheit zwangsläufig sehr schnell durch Erfindungsgabe ausgeglichen und gelernt, die kleinen Drohnen nicht nur zu Aufklärungszwecken, sondern auch als Waffen zu nutzen.

Sie haben ein bemerkenswertes Geschick entwickelt, Handgranaten mit bunten Stabilisierungsflügeln aus dem 3D-Drucker, die sie mit einer Auslösevorrichtung an kleinen Drohnen befestigen, selbst aus relativ großer Höhe zielsicher in das Turmluk eines Panzers fallen zu lassen und damit Kriegsgerät im Wert von Millionen mit einem kleinen Fluggerät für ein paar hundert Euro zu zerstören.

Neuerdings befestigen sie auch Panzerfaustgranaten an größeren Drohnen. Auf dem Übertragungsvideo sieht man vorne einen verbogenen Draht, wie aus einem Kleiderbügel zurechtgebogen, von dem ich annehme, dass es sich hierbei um eine Aufschlagzündervorrichtung handelt.

Die Drohne fliegt hinter einem Panzer oder einem LKW hinterher, manchmal sieht man noch die im Entsetzen verzerrten Gesichter der Soldaten, kurz bevor das Rauschen auf dem Bildschirm einsetzt.

Was an der Front vorgeht, war noch in jüngster Zeit ein großes Rätsel. Die Drohnenkameras, die GoPros und die Mobiltelefone lüften die Geheimnisse der Front. Man sieht viel Bizarres in den Videos. Schreckliches. Grauenerregendes. Dinge, die jede Vorstellung von Krieg als etwas Heroischem und Abenteuerlichen austreiben:

Soldaten, die sich in einer kümmerlichen Grube verkrochen haben und zwei Granaten von der Drohne kriegen und wie Stoffpuppen durch die Luft gewirbelt werden.

Einer versucht seine Gedärme im Bauch zu halten, die aus einer großen Wunde hervorquellen. Man sieht die schnappende Atmung der letzten Atemzüge.

Andere werden beim Scheißen getroffen. Einer sogar beim Wichsen.

Ein anderer, der sich hinter einem zerschossenen Panzer versteckt hatte, wird von einer Drohne gejagt. Wie in einem alptraumhaften Slapstickfilm, klettert er auf den Panzer, springt herunter und rennt um den Panzer herum, um vor ihr davonzulaufen wird aber von der Drohne – die von einem bemerkenswert geschickten Drohnenpiloten gelenkt wird – erfasst und durch eine Explosion getötet.

Welchen Horror muss dieser Mann in seinen letzten Augenblicken durchlebt haben?

Wieder ein anderer hat sich ein Loch in die Grabenwand gegraben und die Leichen seiner Kameraden als Schutz davorgestapelt. Was für ein grauenerregender Anblick, welch alptraumhafte Situation, vom Leichengestank gar nicht erst zu reden.

Das unerbittliche , gleichgültigen Kameraauge der Drohne filmt, wie er sich, vom ihn allumgebenden Grauen besiegt, den Lauf seiner Kalaschnikow in den Mund steckt und abdrückt.

Im vergangenen Jahr sah man auch Verwegene, die der Kamera den Mittelfinger zeigten, bevor die Granaten herabsegelten.

Heute sieht man die Frontschweine, denen alles Menschliche abhandengekommen sind, dem Okular und den Drohnenpiloten an ihrem Bildschirm ein flehendes Gesicht und gefaltete Hände entgegenhalten, bevor sie sterben.

Zu den Todesbildern läuft ukrainische Popmusik, melancholischer Trance, House, Hardbass, Phonk oder manchmal sogar Jazz, was die Bilder noch surrealer erscheinen lässt. Es gibt auch ganze Kompilationen, die gerne mit Death-Metal unterlegt sind.

Oder wie hier mit einer gechillten Ambient-Mukke.  

Es hat für mich etwas von einem depersonalisierenden Drogentrip, einem Weltkrieg ruhig bei seiner Entfaltung zuzusehen und diese ästhetisierende Snuff-Videos in HD zu betrachten.

ACHTUNG GEWALTDARSTELLUNG UND TOD

Sehr bizarr. Sehr, sehr bizarr.

Es ist echt brutal anzusehen, aber das ist der Krieg und Invasoren müssen sterben.

So lautet das Gesetz seit jeher. Und ist auch seit fast 80 Jahren in Art. 51 UN-Charta kodifiziert.

Irgendjemand hat diesen armen Irren erzählt, sie würden für „Mat Rossija“ kämpfen oder das Neonazi-Regime in Kyiv vernichten, in der Realität kämpfen sie für die imperialistischen Großmachtphantasien eines hasszerfressenen Diktators und krepieren einsam und allein, fern von ihren Lieben mit abgerissenen Gliedmaßen in Schnee und Kälte.

Niemand kann die unermessliche Einsamkeit desjenigen nachempfinden, der in einem zerschossenen Wald steht und das Surren der Drohne über sich hört, einsam und ganz allein. Ohne Möglichkeit, ihr zu entkommen. Und darauf zu warten, dass die Granaten auf ihn herabfallen und seine Gliedmaßen zerfetzen und seinen Körper mit Schrapnellen zu durchbohren.

Von dem kalten Kameraauge beobachtet, mutterseelenallein.

Doch es nicht wahr, dass er einsam und unbeobachtet stirbt. Denn die Drohnenvideos werden über Twitter-Feeds und Gore-Seiten verbreitet.

Das elende Sterben wird von unzähligen Usern in aller Welt, von Oslo bis Rio de Janeiro verfolgt, die zwischen zwei Pornovideos an einem mit vollgewichsten Taschentüchern bedeckten Schreibtisch ein paar Kriegsvideos reinziehen,  die sie mit zynischen und misanthropischen Kommentaren garnieren à la: hier ist jemand, der definitiv einen schlechteren Tag hast als du. Oder: er kam in die Ukraine und verlor den Kopf. Oder: Oh, das hat jetzt aber bestimmt ein bisschen geziept.

Diese Videos lösen zwei Arten von gegensätzlichen Impulsen aus.

Natürlich ist der erste Reflex zu denken: „Tja, Jewgeni, selbst schuld. Du hättest niemals aus deinem stinkenden Plattenbau in Nowosibirsk in die Ukraine kommen dürfen, dann wärst du nicht in dieser Lage.

Und doch: wenn man nur einen winzigen Funken Menschlichkeit hat, dann fühlt man natürlich -trotz allem -, als Mann, als Mensch mit diesem armen Schwein.

Was für ein mieser, räudiger Tod. Unter welchen Bedingungen das arme Schwein stirbt. In der Kälte, ganz allein, fern von zu Hause. Das wünscht man keinem.

Der Sinn dieser kleinen Abhandlung ist der folgende:

Ich bin mir nicht wirklich sicher, ob die Menschen hier in diesem Land die Dringlichkeit erkannt haben.

Sollte, nur mal angenommen, Trump erneut zum US-Präsidenten gewählt werden, steht die NATO in ihrer derzeitigen Form auf der Kippe. Das ist zumindest Stand jetzt keineswegs unwahrscheinlich und ich kann nur davor warnen irgendwelche unbrauchbaren Prognosen hierzu vom umstrittenen öffentlich-rechtlichen Rundfunk-Komplex Glauben zu schenken, der aus ideologischen Gründen irgendwelche demokratischen Hinterbänkler hochjazzt und bisher bei wichtigen Ereignissen immer danebengelegen hat.

Wenn das nämlich eintritt, dann werden wir kaum wissen, welcher der üblichen Schweinepriester Putin, Xi Jinping oder Erdogan unsere absolute Wehr- und Hilflosigkeit (und Kollaborationsbereitschaft) als erster ausnutzen wird. Oder irgendein anderer Bastard, den wir jetzt noch gar nicht auf dem Zettel haben.

Wenn ich mir so die Gesichter auf der Straße ansehen, dann sehe ich vor allem eine Masse, deren große Mehrheit nichts anderes tun wird, als sich so schnell wie möglich vor dem neuen Tyrannen auf den Boden zu werfen und seine Stiefel zu lecken, „um ihre Ruhe zu haben“.

Menschen, die bereitwillig Ausgangssperren respektiert und vor dem Restaurantbesuch brav ihren Impfnachweis vorgezeigt haben, braucht man überhaupt nicht erst zu konditionieren. Die geborenen Sklaven ohne jeden Freiheitssinn oder Selbsterhaltungstrieb.

Alles, wozu noch die erschlaffte Vitalität noch in der Lage ist, sind ein paar passiv-aggressive Kommentare unter einem Tweet.

Vielleicht also auch bald in unseren Gefilden. Wer weiß das schon….

Zum Glück fließt das Blut meiner Landsleute nicht umsonst in meinen Adern.

Sic semper tyrannis!

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Tickende Zeitbomben

Mal wieder ein Artikel mit Crime Content. Der Artikel stammt aus der französischen Zeitung „Le Monde“. An sich wollte ich nicht mehr übersetzen, weil das doch schon sehr zeitraubend ist, besonders bei langen Artikeln.

Aber dieser Artikel hat mich noch eine ganze Weile lang nachdenklich zurückgelassen, so dass ich die Weihnachtsfeiertage genutzt habe, um ihn ins Deutsche zu übertragen.

Der Bericht über ein Terrorverfahren gegen Jugendliche, dich sich in Online-Foren über Anschlagspläne ausgetauscht haben, verdeutlicht ein wachsendes Unbehagen in der westlichen Jugend, die meiner Meinung nach ein Widerhall der zwischenmenschlichen Gewalt der Erwachsenen ist. Spüren die jungen Menschen den Stress und den Hass, der unter den Erwachsenen herrscht? Wittern sie das Herannahen des Weltkriegs, der sich am Horizont zusammenbraut? Was sagt die zunehmende Verrohung und Dehumanisierung über unsere Gesellschaft und das Zusammenleben aus?

Ein wichtiger Punkt, der aus dem Artikel hervorgeht und bisherige Berichte nur bestätigt, ist die tiefgreifende Verletzung, die Mobbing in der Schule hervorrufen kann. Die Hilflosigkeit und Demütigung führen bei manchen Kindern zu einem unkontrollierbaren Hass. Ich denke, das ist auch auf Deutschland übertragbar. In der jüngeren Vergangenheit gab es auch hierzulande aufsehenerregende Mordfälle, an denen strafunmündige Kinder, darunter auch auffällig oft Mädchen, beteiligt waren.

Für mich sind dies besorgniserregende Vorboten von Unheil und ein ungutes Zeichen für den Zustand unserer Gesellschaft.

Daneben gibt es ein, zumindest für mich, interessantes juristisches Problem: nämlich, ob man tatsächlich den Tatbestand der Bildung einer terroristischen Vereinigung annehmen kann, deren Mitglieder sich niemals im wirklichen Leben getroffen haben, sondern nur in Chaträumen von Online-Foren kommuniziert haben. Vielleicht ist das ein französisches Spezifikum, vielleicht wäre das aber auch in Deutschland möglich, aber ich mache viel zu wenig (Jugend-) Strafrecht, um hier eine valide Aussage treffen zu können.

Hier ist die Übersetzung:

„Ich will Menschen töten“: wenn die dschihadistische und die Nazi-Ideologie den Hass und das Leiden von abgeglittenen Jugendlichen kapern.

Drei Männer und eine Frau im Alter von 16 bis 19 Jahren, die von dschihadistischer und ultrarechter Gewalt fasziniert waren, tauschten sich im Internet aus und planten Terroranschläge, um „Rache an der Menschheit“ zu nehmen. Die für Terrorverfahren mit einer Sonderzuständigkeit ausgestattete Staatsanwaltschaft PNAT (Parquet national anti-terroriste) hat sie wegen Bildung einer terroristischen Vereinigung angeklagt.

Es sind abgedriftete, haltlose Jugendliche. Sie waren Opfer von Schulmobbing, sexuellen Missbrauchs oder ihres eigenen Verfolgungswahns. Sie haben sich isoliert, sich in ihr Zimmer verkrochen und sich mit dem Internet verbunden. Sie haben Online-„Freunde“ gefunden, ihre einzigen Freunde auf Foren für Schul-Amokläufen, Nazi-Ideologie oder Dschihadisten-Propaganda. Sie haben Enthauptungsvideos geteilt und Fotos von Amokläufen, die ihre Faszination für den Tod und Gewalt versinnbildlichten.

Sie wollten „Köpfe abschneiden“, „Menschen massakrieren“. Sie bezeichnen sich als Rassisten oder Dschihadisten, sie teilen einen unauslöschlichen Hass gegen die Menschheit, den nichts lindern kann gegen ihre Mobber, ihre Missbrauchstäter, Muslime, Juden, Schwarze, Frauen und andere.

Sie haben untereinander über Terroranschläge gesprochen. Sie haben phantasiert „Ungläubige“ oder „Neger“ zu töten. Sie haben Sprengsätze hergestellt und Bekennervideos gedreht in der Hoffnung, dass ihre Wut vor den Augen der Welt zerbirst, dass man von ihnen spricht, dass man sich nach ihrem Tod an ihr „Werk“ erinnert. Sie sind zwischen 16 und 19 Jahren alt. Es sind noch Kinder. Unglückliche und gefährliche Kinder.

Diese Ermittlungen der Antiterror-Justiz hatten, wie so oft, durch einen Hinweis begonnen, der ein unmittelbar bevorstehendes Anschlagsprojekt meldete. Doch beim Stürmen von Lounas Zimmer (alle Namen geändert), die gerade 18 Jahre alt geworden war, haben die Polizisten schnell verstanden, dass das klassische Antiterror-Handbuch in diesem Fall nicht ausreichen würde, um alle Nuancen dieses Falls zu erfassen.

Louna ist zwar von der Terrororganisation Islamischer Staat fasziniert, hat aber auch in großes Interesse am Nationalsozialismus. Im Internet unterhielt sie sich im Übrigen über Anschlagspläne mit drei Jungen, die nicht alle gemeinsame Überzeugungen teilen: einer von ihnen ist ein brillanter 17-jähriger franko-japanischer Schüler, der davon träumt nach Syrien zu gehen; die beiden anderen sind 16 und 19 Jahre alt, von Adolf Hitler fasziniert und planen ein Massaker in einem Gymnasium oder in einer Moschee.

Dieser Fall, ein Zusammentreffen von Ideologien, die a priori nichts gemein haben, hat über längere Zeit die Antiterror-Justiz in Verlegenheit gebracht. Wie kann man das Motiv von Beschuldigten qualifizieren, die sich zu einem Anschlagsprojekt zusammenschließen, die jedoch auf ideologischer Ebene gegensätzlicher nicht sein könnten?

Indem sie das Intime hinter dem Politischen, den Impuls hinter den Worten enthüllen, laden die Ermittlungen dazu ein, über die Art und Weise nachzudenken, wie radikale Ideologien, das psychische Chaos abgedrifteter Jugendlicher kapern.

Nach zwei Jahren dauernden Ermittlungen hat die Antiterror-Staatsanwaltschaft PNAT in ihrer Anklageschrift vom 2. Oktober 2023, die ‚Le Monde‘ einsehen konnte, beantragt, dass gegen diese vier Jugendlichen ein Verfahren wegen Bildung einer terroristischen Vereinigung („association de malfaiteurs terroriste“) eröffnet wird.

Blut auf meinem Gesicht

Als Ermittler des Inlandsgeheimdienstes DGSI (Direction générale de la sécurité intérieure) am 4. April 2021 nach einem Hinweis eines ausländischen Nachrichtendienstes über einen geplanten Anschlag auf eine Kirche in die Familienwohnung von Louna in Béziers (Département Hérault) eindringen, gewahren sie eine verwahrloste und vermüllte Wohnung.

Im Zimmer der jungen Frau stoßen die Ermittler auf ein kleines Chemielabor mit zahlreichen Stoffen, um Sprengsätze herzustellen. Ein Messer liegt auf dem Nachttisch neben einem auf Hochglanzpapier gedruckten Foto des abgeschnittenen Kopfes des Geschichts- und Erdkundelehrers Samuel Paty.

Im Zimmer finden sie zudem zwei Fotos des Schulamoklaufs von Columbine, der im Jahr 1999 dreizehn Tote gefordert hatte und ausgedruckte Fotos von Dschihadisten.

Der bedeutendste Fund ist jedoch ein Spiralblock mit 57 vollständig beschrifteten Seiten, ein langer, handschriftlicher Alptraum, der mit dem Satz beginnt: „Ich werde euer Blut auf dem Gesicht haben“.

Das Heft enthält Anleitungen zum Bombenbau, Einzelheiten zum einem Anschlagsprojekt samt Grundriss einer Kirche in Béziers, das auch die Zeiten des Publikumsverkehrs erwähnt, einen Plan ihres ehemaligen Gymnasiums, einen anderen von ihrem Wohnhaus sowie eine Liste von jüdischen Einrichtungen. Louna schreibt: „Träume von einem Land des Dschihad, wo ich Menschen massakrieren kann.“

Im Verlauf der Seiten notiert die junge Frau die kleinsten Details ihrer mörderischen Pläne und ihre Faszination für das „Leiden“ anderer, ein Wort, das ihr Manuskript durchzieht und ein Echo ihres eigenen emotionalen Zustands zu sein scheint.

Ich habe gelernt einen Menschen zu enthaupten“, schreibt sie, „ihr müsst auch auf den Bauch legen und ich schneide eure Kehle ein, bis sie vom Körper getrennt ist, ich tue es langsam, um ein intensives, langsames, schmerzhaftes Leiden zu verursachen (…). Ich will Menschen aus reiner Freude töten (…). Waa, ich habe eine solche Lust zu töten, es ist echt voll krank, ich muss töten, verdammte Scheiße.“

Das junge Mädchen hat sich in ein unermessliches Unwohlsein verrannt: „Dieses Gefühl, wenn dich buchstäblich nichts glücklich macht (…) Ich hasse einfach die ganze Welt, ich weiß nicht mal, ob ich Hilfe brauche oder ich einfach alles tun sollte, was ich im Kopf habe, das menschliche Leben zählt verfickt nochmal nichts.“

Ihr Durst nach „Rache“ ist total, absolut, ohne fest definiertes Objekt: sie verabscheut ihre Nachbarn, Juden, Homosexuelle, Schwarze, Armenier, Behinderte, Christen, Inder, schließt nicht aus, Muslime zu töten und träumt von einem Paradis, wo nur noch „Weißhäute“ leben: „Ich kann diese Neger nicht ausstehen.“

Enthauptungen finde ich am besten

Dieser vollständige Hass und ihre obsessive Leidenschaft für Enthauptungen haben sie natürlicherweise dazu gebracht, sich für den Islamischen Staat und seine ultrabrutale Propaganda zu interessieren. In ihrem Telefon wurden 137 dschihadistische Videos gefunden, darunter die abstoßendsten, wie das von der Hinrichtung eines jordanischen Piloten, der bei lebendigem Leib von der Terrorgruppe in einem Käfig verbrannt worden war oder dieses Lernvideo, das von dem französischen Dschihadisten Youcef Diabi gedreht worden war und wo dieser an einem lebenden, gefesselten Gefangenen verschiedene Arten einen Menschen mit dem Messer zu töten vorführt.

Auf Telegram hat Louna die Bekanntschaft eines anderen jungen Radikalisierten gemacht, Takeshi, ein 17-jähriger franko-japanischer Student. Sie will sich ein Sturmgewehr besorgen, er würde sie gerne heiraten, bevor er nach Syrien geht. Das Profil der beiden Jugendlichen ist jedoch diametral entgegengesetzt: Takeshi lebt in einem schicken Viertel von Paris, Louna in einer Bruchbude in Béziers; er ist hochbegabt, hat zwei Klassen übersprungen und hat eine Vorbereitungsklasse [für die Grandes Écoles, AdÜ] an einer der besten Schulen der Hauptstadt besucht, sie hat die Schule seit zwei Jahren aufgegeben. Doch auch er ist einsam, introvertiert und war Opfer von Schulmobbing.

Um ein Abgleiten in die Depression zu verhindern, konvertierte Takeshi mit 14 Jahren zum Islam. Von nun an träumt er davon, sich einer dschihadistischen Gruppierung anzuschließen, die in der Region von Idlib in Syrien von Omar Omsen, einem Franzosen senegalesischer Abstammung aus Nizza gegründet worden war, um dort im Krieg „auf eine Weise zu sterben, die mit seiner Religion kompatibel“ ist, zu sterben.

Louna will lieber in Frankreich töten und sterben.

– „Glaubst du, eine Frau kann das machen? Frankreich angreifen?“, fragt sie ihn.

– „Wenn das für dich bedeutet, Zivilisten zu töten, dann bringt es nichts und ich schwöre bei Allah, dem sehr Erhabenen, dass es eine enorme Sünde ist“, versucht Takeshi sie davon abzubringen, der sie lieber heiraten würde.

– „Wärst du imstande, jemanden zu töten?“

– „Natürlich, aber es kommt darauf an, wen. Wenn es ein Soldat Assads ist, dann mach ich ihn ohne Probleme kalt.“

– „Durch Enthauptung. Enthauptungen finde ich am besten“, jubelt Louna.

– „Du bist echt ein bisschen abgedreht“, wundert sich der Junge. „Oft bevorzugen Mädchen etwas Milderes“.

– „Nein, die Person soll einfach so dermaßen leiden. Und lebendig verbrennen. Ich hab das Video gesehen“.

– „Ich sehe mir solche Videos nicht gerne an. Ich bevorzuge Al-Qaida. Das ist doch schöner mit den Flugzeugen“, wiegelt der Jugendliche ab.

Wurde ich vergewaltigt?

Trotz seines Versprechens auf Gewalt scheint der Dschihad nicht in der Lage zu sein, all den Zorn zu absorbieren, der Louna überwältigt hat. Ihr inneres Chaos treibt sie auch zu einer anderen Ideologie: dem Nationalsozialismus.

In ihr Heft hat sie einen Dschihadisten und einen Nazi-Soldaten neben einem enthaupteten Kopf gezeichnet oder ein Hakenkreuz mit folgenden Inschriften „Frankreich den Franzosen“, „Antifa = eine Kugel“, „Neger raus“. Sie versucht sich bereitwillig an der deutschen Sprache („Arbeit macht frei“), bis dahin, dass sie ihre Vorliebe für Enthauptungen in die Sprache Goethes übersetzt. „Sie schwankt zwischen einer Faszination für den Islamischen Staat und für den Nationalsozialismus“, resümieren etwas desorientiert die Ermittler.

Sie wurde mit drei Schwestern und einem jüngeren Bruder von einer atheistischen, arbeitslosten, aus Marokko stammenden Mutter aufgezogen, die sich von dem alkoholsüchtigen uns sehr kranken Vater hatte scheiden lassen. Louna ist in einer Familie aufgewachsen, in der eine „sehr große soziale und intellektuelle Prekarität“ vorherrschten. Wie ihr jüngerer Bruder und eine Schwester wurde sie in einem Kinderheim untergebracht, aus dem sie fortgelaufen ist. Seit zwei Jahren von der Schule abgemeldet, „selbstmordgefährdet“ und „einsam“, verbringt sie die Tage in diesem Zimmer, dessen Türklinke sie mitnimmt, wenn sie ausgeht, so dass keiner ihrer Familienmitglieder realisiert hatte, dass sich das Zimmer in eine dem Verbrechen geweihte Kapelle verwandelt hatte.

Während ihres Polizeigewahrsams kommt bruchstückhaft ein wenig Aufklärung bezüglich der Gründe für ihr Abgleiten an Licht. Sie erwähnt namentlich sexuelle Missbrauchstaten, die zwei Jahre zuvor an ihr durch einen Nachbarn im selben Stockwerk begangen worden seien, wonach sie im Anschluss daran begonnen habe, Gore-Videos anzuschauen.

Eine Begebenheit, die an den Plan ihres Wohnhauses gemahnt, den man in ihrem Heft gefunden hatte und die Tatsache, dass sie „Nachbarn“ als Ziele ihrer potenziellen Tatbegehung genannt hatte.

Eine der Abfragen, die sie im Internet getätigt hatte, lautete: „Wurde ich vergewaltigt?“. Zwei andere Aufrufe ähnelten Hilferufen: „Einem Kind oder Jugendlichen helfen, das sich selbst verletzt“ und „Täter von Schulamokläufen, Warnsignale“.

Nicht praktizierende“ Muslimin, wie sie gegenüber den Ermittlern klarstellt, erklärt Louna, dass sie sich dem Dschihadismus und dem Nationalsozialismus angenähert habe, um ihre makabren Obsessionen in einer Art kathartischer Gegen-Gewalt zu befriedigen. „Ich habe mich ausschließlich mit diesen beiden Ideologien befasst, um meine Faszination für den gewaltsamen Tod zu rechtfertigen. Ich glaubte ernsthaft weder an die eine noch an die andere.“

Im Verlauf ihrer Verirrungen hat sie sich im Übrigen an Diskussionsgruppen beteiligt, die nichts wirklich Politisches mehr hatten: es ging um Serienmörder und Schulamokläufe. Auf diese Weise hat sie die beiden anderen Mitbeschuldigten kennengelernt: Raphaël und Ugo.

Raphaël und die Schulschießereien

Es war während des Lockdowns in der ersten Covid-19 Epidemie im Frühjahr 2020 als die die Jugendlichen ihre unendliche Einsamkeit gebrochen haben, indem sie auf Foren mit anderen Jugendlichen diskutierten, die genauso verloren waren wie sie. Sie sind sich auf True Crime Community begegnet, einer Internetgemeinde, die von Kapitalverbrechern und Schulmassakern fasziniert ist.

Der jüngste des Trios, Raphaël, 16 Jahre, lebt in einer kleinen Gemeinde im Département Haut-Rhin. Er ist ein Schulversager, sozial isoliert und fühlt sich unwohl in seiner Haut. Die meiste Zeit spielt er Ballerspiele in seinem Zimmer. Auf True Crime Community hat er endlich Jugendliche kennengelernt, die ihm gleichen und hat eine Leidenschaft für „Kannibalen und Mörder“ entwickelt, die seiner Wut eine Gestalt geben. Seine eigene Mutter bezeichnet ihn als „Zeitbombe“, selbst wenn sie ihn für zu introvertiert hält, um anderen Gewalt anzutun.

Er hat den Ermittlern von dem narzisstischen Gewinn erzählt, den er aus dem geteilten Verlangen für Gewalt gezogen hat: „Es ist ein Weg, der sich mir eröffnet hat, nachdem ich einmal dieser Gruppe beigetreten bin (…) Ich mag diese Gewalt“, hat er erläutert und erklärt, dass er sich „wie Gott“ fühle, wenn er in diesem Milieu verweilte. „In all diesen Jahren wurde ich geärgert und gedemütigt“, schreibt er in einer Notiz, die in seinem Telefon gefunden wurde. „Ich werde mich an der Menschheit und an euch allen rächen (…) Ihr habt mich eines glücklichen Lebens beraubt. Zum Ausgleich werde ich euch …eures Lebens berauben.“

Sein Irrweg bringt ihn wie Louna dazu einer Diskussionsgruppe auf Telegram beizutreten, Atomwaffen Command, ein Ableger der amerikanischen Neonazi-Gruppierung Atomwaffen Division, die den Akzelerationismus predigt, eine Theorie, die darauf abzielt die Gesellschaft in einen Rassenkrieg zu stürzen, damit aus ihr ein weißer Ethno-Staat auferstehe. Von ihrem Enthusiasmus mitgerissen hatte Louna es sogar fertiggebracht, einzelne Mitglieder zu schocken, indem sie ein Foto des enthaupteten Kopfes von Samuel Paty postete, ihr Lieblingsbild: wie es häufig vorkommt, wenn ein Individuum in einer Gruppe radikalisierter Jugendlicher aus dem Rahmen fällt, hatten sie sie verdächtigt ein Mossad-Agent zu sein.

Im Verlauf ihrer Diskussionen vertraut Louna Raphaël an, dass ein Nachbar sie „berührt“ habe, er erzählt ihr, dass er Opfer von Schulmobbing geworden war.

Sie bekennt sich um Islamischen Staat, er zum Neonazismus, beide stimmen in ihrem Hass auf Juden überein, teile ultragewalttätige Videos und sprechen über ihren Wunsch nach „Rache“. Sie erzählt ihm von ihren Attentatsplänen, er öffnet sich ihr über sein geplantes Schulmassaker, das er mit Ugo begehen wolle, ebenfalls Mitglied von Atomwaffen Command.

Das Attentat, in dem die beiden Jugendlichen sterben wollen, ist für den 20. April 2022 geplant, Jahrestag des Columbine-Amoklaufs und Geburtstag Adolf Hitlers.

Ugo, der „Psychopath“

Ugo, ein Normanne von 19 Jahren, bezeichnet sich selbst als „Psychopathen“. Er hat auch mit Louna, die ihm Anleitungen zum Bombenbau geschickt hat, über seine mörderischen Pläne gesprochen.

Trotz ihrer politischen Gegensätze verhehlt der junge Mann nicht eine gewisse Zuneigung für den Kamikaze-Neuling. „Sie wollte, dass ich Dschihadist werde. Ich hatte Empathie für sie. Sie ist wie Raphaël und ich, mit wenig Freunden und Opfer von Mobbing“, hat er im Polizeigewahrsam erklärt. „Sie zögerte beim Nationalsozialismus, aber sie war mehr vom Islamischen Staat angezogen.“

Ugo selbst ist kein Dschihadist. In seinem Zimmer haben die Ermittler siebzehn Messer mit Nazi-Inschriften gefunden, Bücher über den amerikanischen Mörder Charles Manson und Adolf Hitler. Seit der Grundschule an einer Lese-Rechtschreib-Schwäche leidend, erklärt er, Opfer von Schulmobbing gewesen zu sein und sich in der 5. Klasse „radikalisiert“ zu haben, beginnend mit dem radikalen Islam, bevor er zum Nationalsozialismus kam. Hitler habe ihm „die Augen geöffnet“ und ihm „die Hand gereicht“ als er psychisch unterging. Laut ehemaliger Klassenkameraden hatte Ugo Probleme in der Schule vor allem deswegen gehabt, weil er dort Telegramm Reden gehalten habe.

Wie Louna hat auch Ugo seine dunklen Gedanken schriftlich niedergelegt. Er hat nicht weniger als zwanzig Hefte mit seinen morbiden Delirien gefüllt. Dort beschreibt er seine selbstmörderischen Gedanken und einen sexuellen Missbrauch, den er im Alter von neun Jahren durch einen gleichaltrigen Jungen erlitten habe. In einem seiner Hefte mit dem Titel „Mein Kampf III“ gibt er an, Stimmen zu hören, die ihm zu töten befehlen: „Ich habe verschiedene Personen in meinem Kopf: einen Gläubigen, einen Killer (ich als Nazi), einen Verrückten, ein unreifes Kind.“

Der psychiatrische Sachverständige, der ihn exploriert hat, beschreibt sein „konstantes Gefühl der Frustration und Unterlegenheit“, eine „Störung aus dem paranoiden Formenkreis“, die der Herabsetzung seiner Einsichtsfähigkeit zugrundeliegt und hält eine Anordnung von psychiatrischer Versorgung für „unabdingbar“.

Der junge Mann ist im Übrigen relativ klarsichtig über den hybriden Charakter seines Zorns: „Es ist persönlich aber auch politisch“, schreibt er in ein Heft. „Ich töte für den Nazismus und aus Rache“.

Wir werden auf Google sein

In Raphaël habe er einen „Waffenbruder“ gefunden, erklärt Ugo, „ein Wort, das stärker ist als ‚Freund‘“, präzisiert er gegenüber den Ermittlern. Abgesehen von ihrer Leidenschaft für Waffen, teilen die beiden Jugendlichen eine emotionale Frustration, die sie dazu gebracht hat, sich einer anderen radikalen Bewegung anzunähern, der Subkultur der Incels (involuntary celibate), die einen tiefsitzenden Frauenhass propagiert. Doch Ugo und Raphaël haben vor allem ein gemeinsames Projekt, das ihren Zorn materialisieren soll und das sie ihr „Werk“ nennen: ein Schulmassaker. Ugo schreibt an seinen jungen Freund: „Ich habe mindestens zehn Personen in meinem Gymnasium zu töten und dann greife ich eine Moschee an“. Von ihren eigenen Phantasien mitgerissen hoffen die beiden Jungen, in der Nachwelt fortzuleben: „Wir werden auf Google sein, auf der ersten Seite der Zeitungen, genial“, schreibt Raphaël. „Unsere Gesichter im Internet und in Dokumentarfilmen“, antwortet Ugo. „Wir sind Götter des Chaos und der Rache“.

Dieses Gefühl der Allmacht setzt Ugo oft in Szene. Im Verlauf von fünf Monaten hat er Raphaël nicht weniger als dreizehn Bekennervideos ihres kommenden „Werkes“ geschickt, in denen er mit verschiedenen Waffen posiert.

Ich werde viele Personen töten (…) Seit Jahren sind Schüler Opfer von Mobbing (…) Wann wird der Staat etwas dagegen unternehmen? (…) Dem Gesindel in seinen Vorstädten, dem gibt man Sozialhilfe, sie vergewaltigen Frauen, sie mobben Kinder in den Schulen (…) Ich werde da aufräumen! (…) Es gab da welche, die mich in der Schule gemobbt haben, die werden die Fresse vollkriegen! Ich werde ihnen den Schädel mit einem Hammer zerschmettern und ihren die Kehle aufschlitzen“. Vor den Ermittlern gibt er zu: „Wenn ich ein Video machte, wollte ich mir selbst Angst einjagen. Ich wusste nicht, ob es real war.“

Ein „verwurzeltes Bekenntnis zu radikalen Ideologien“.

Waren diese vier abgeglittenen Jugendlichen von einem Wunsch nach Rache angetrieben oder von ihren ideologischen Überzeugungen? Ist Louna Dschihadistin oder Nazi? Phantasierten Ugo und Raphaël ein Schulmassaker, das von ihrem Gefühl der Zurückweisung motiviert war oder ein rassistisches (suprematistisches) Attentat?

Der PNAT hat erachtet, dass ihr Profil und ihre Handlungen ausreichend besorgniserregend seien, um die Annahme der Bildung einer terroristischen Vereinigung zu rechtfertigen.

Wenn die die Beweggründe dieser terroristischen Projekte Unwohlsein und Selbstmordgedanken vereinten, legten die Beschuldigten dennoch eine erstaunliche Entschlossenheit an den Tag, ebenso wie intensive Vorbereitungen ihrer gewalttätigen Pläne und stellten sich die Resonanz ihrer zukünftigen Aktionen im Rahmen eines verwurzelten Bekenntnisses zu radikalen, dschihadistischen und ultrarechten Ideologien vor“, fassen die Staatsanwälte zusammen.

Sie beantragen daher, dass Takeshi, Raphaël und Louna, die zum Tatzeitpunkt minderjährig waren, vor eine Jugendkammer gestellt werden. Wenn die Ermittlungsrichter die Anklage zulassen, könnte Louna erneut vor Gericht stehen, diesmal mit Ugo für Taten, die sie zwischen ihrem 18. Geburtstag und ihrer Verhaftung, einen Monat später, begangen hat.

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Comic-Empfehlung: „Der Fotograf“ und „Der Araber von morgen“

Ein letzter Lesetip für dieses Jahr, und zwar zwei Comics. Vielleicht gar nicht schlecht für ein verkatertes Neujahr.

Der Fotograf von Didier Lefèvre und Emmanuel Guibert

Ein sehr interessantes Buch, dessen auffälliges Cover mir in der sehr schönen Buchhandlung im Erdgeschoss des MUCEM in Marseille ins Auge gesprungen ist, so dass ich es gekauft und mitgenommen habe.

Didier Lefèvre war im Sommer 1986 in einer Aufwallung von Abenteuerlust nach Pakistan gereist, um einen Medikamententransport der Organisation „Ärzte ohne Grenzen“ (MSF) nach Afghanistan, das sich im Krieg mit der Sowjetunion befand, fotografisch zu dokumentieren.

Zwar hat Didier Lefèvre den ganzen Trip in Notizen festgehalten, sein Notizbuch jedoch bei irgendeinem Umzug verloren. So blieben für die Anfertigung des Comics nur die vielen Fotos und die Erinnerungen von Lefèvre, um das Abenteuer zu rekonstruieren und das von Emmanuel Guibert in einem Wechsel aus Fotos und Zeichnungen sehr schön in Szene gesetzt wird.

Der Trip ist in der Tat spannend: beginnend mit einem nächtlichen, illegalen Grenzübertritt in der Nähe von Peschawar in die kommunistische Demokratische Republik Afghanistan. Die lange Pferde- und Maultierkarawane, die nicht nur Medikamente und medizinisches Gerät transportiert, sondern auch Waffen für die Mudschahedin. Der kräftezehrende, mehrwöchige Fußmarsch in Höhen von 5000 m. Das Verstecken vor den sowjetischen Helikoptern. Und schließlich die Ankunft in einem abgelegenen Tal in der Provinz Badakhshan, wo die französischen und amerikanischen Ärzte Schuss- und Brandwunden versorgen, von Minen verstümmelte Kinder operieren und Geburten begleiten.

Ein wirklich schönes und interessantes Buch, das mich an den ersten Konflikt erinnert, den ich als Kind/Jugendlicher bewusst wahrgenommen habe.

Aus den Bildern und Schilderungen scheint es mir so, als sei dem afghanischen Volk ein stolzer und ehrenhafter Volkscharakter eigen, der aber in den nun mehr 40 Jahren ununterbrochener Gewalt immer mehr verkümmert ist – bis auf die Mudschahidin, die Lefèvre, der auf die dumme Idee gekommen war, alleine den Rückweg nach Peschawar anzutreten und sich im Gebirge verlaufen hatte, nach Strich und Faden ausgenommen haben.

Didier Lefèvre ist im Jahr 2007 völlig überraschend mit 49 Jahren an einem Herzinfarkt gestorben.

Der Araber von morgen

Das Drama der Familiengeschichte von Riad Sattouf, einer der aktuell bekanntesten französischen Zeichner, und die Tragödie seines Vaters Abdel (bereits hier kurz angesprochen).

Riad Sattouf ist das Kind einer Bretonin und eines Syrers, die sich als Studenten in Paris in den 1970er Jahren kennengelernt hatten. Sattoufs Vater Abdel ist ein aufstrebender, der Modernität zugewandter Historiker, der die verstaubten arabischen Nationen mit den neuen Theorien aus den französischen Universitäten revolutionieren wollte. Nach dem Abschluss seiner Promotion nimmt er seine Familie mit in das Libyen des Muammar Al-Gaddafi, weil der erratische Oberst eine Zeit lang tatsächlich Anstalten machte, aus dem rückständigen Libyen eine futuristische, sozialistische Ölnation zu schmieden.

Allein: nichts funktioniert. Der Vater kehrt in sein Heimatdort in der Nähe von Homs zurück. Ohne Beziehungen kann er in der Assad-Diktatur kein Professor werden, sondern nur ein kleiner Lehrer sein.

Die enttäuschten Erwartungen und die Frustrationen entfremden den Vater von seinen ehemaligen Idealen und seiner Familie und er regrediert wieder zu den Traditionen eines primitiven Islam.

Daneben werden mit den Kinderaugen des Autors der teils surreale Alltag in Libyen und Syrien geschildert: die allgegenwärtige Gewalt, gegen jedes schwächere Lebewesen und vor allem das Prügeln der Kinder in der Schule. Dann die Rückkehr nach Frankreich, die unbehaglichen Jahre an der Oberschule und die schwierigen Anfänge als Zeichner bis zum Durchbruch.

Die Konflikte zwischen den Eltern werden immer größer und gipfeln in der Entführung des jüngsten Bruders durch den Vater nach Syrien. Riad Sattouf konnte seinen Bruder, den er jahrelang nicht gesehen hatte und der das Französische vollkommen verlernt hatte, bei Ausbruch der Feindseligkeiten im Arabischen Frühling im letzten Moment vor dem Einzug in die syrische Armee bewahren und ihn nach Frankreich zurückholen.

Eine wirklich außergewöhnliche Geschichte, die durch Riad Sattoufs freundlichen Humor und Ironie und interessante Reflexionen Tiefenschärfe erlangt und die Geschichte lesenswert macht.

Beide Werke sind mittlerweile auch auf Deutsch erschienen.

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